29.10.2015 - TSV 1860 München

1860-Fans ziehen vor Europäischen Gerichtshof


Zwei Fans vom TSV 1860 München klagen aktuell vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weil sie im Dezember 2007 von Polizisten mit Pfefferspray bzw. mit einem Schlagstock attackiert wurde. Wegen fehlender Kennzeichnung der Beamten waren diese nicht zu identifizieren.

Die klagenden Löwenfans wollen sich damit nicht zufrieden geben. In Deutschland gibt es in den Bundesländern Bayern, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland, Sachsen und Sachsen-Anhalt immer noch keine Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte. Dies soll der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte durch sein Urteil feststellen und somit Änderungen bewirken. (Faszination Fankurve, 29.10.2015)


Faszination Fankurve dokumentiert die Pressemitteilung des Anwalts der beiden 1860-Fans:

EGMR-Beschwerde zweier 1860-Fans wegen polizeilicher Übergriffe am 09.12.07 im Grünwalder Stadion

Die zwei Stadionbesucher - heute 46 J. und 26 J. alt und aus Bayern - waren am 09.12.07 Opfer polizeilicher Übergriffe nach einem Fußballspiel im Grünwalderstadion geworden. Nachdem sie das Spiel als harmlose Zuschauer besucht hatten, sind sie beim Verlassen des Stadions von Polizeibeamten ohne erkennbaren Grund und völlig willkürlich angegriffen und verletzt worden. Der eine Beschwerdeführer wurde mit einem der gefährlichen Schlagstöcke (Typ Tonfa) auf den Kopf geschlagen, wodurch er eine Platzwunde erlitt und im Krankenhaus behandelt werden musste und dem anderen wurde Reizstoff (sog. „Pfefferspray“) aus nächster Nähe in das Gesicht und die Augen gesprüht und mit dem Schlagstock gegen den Oberarm geschlagen. Sie gaben jeweils an, dass die Tat durch Polizeibeamte in dunklen Einsatzanzügen begangen wurde, die Helme trugen aber keinerlei Identifizierungsmerkmale wie Nummern. Auch die Staatsanwaltschaft ging davon aus, dass es zu Tätlichkeiten der eingesetzten Beamten gekommen war. Das Verfahren wurde aber eingestellt, da eine Individualisierung einzelner Beamter nicht möglich gewesen sei. Die Einsatzkräfte seien sämtlich einheitlich gekleidet gewesen, hatten Helme mit Visier getragen und waren nicht durch Namen oder erkennbare Identifikationsnummern zu individualisieren gewesen. Die Beschwerdeführer forderten Aufklärung und stellten Strafanzeige. Die durchgeführten Ermittlungen waren jedoch völlig unzureichend und führten nicht zur Ermittlung der Täter, die daher straflos blieben.

Eine Abteilung des Polizeipräsidiums München hat die Ermittlungen geführt, dasselbe Präsidium, dem auch die eingesetzten Beamten angehörten. Die vorhandenen polizeilichen Einsatzvideos wurden nicht sichergestellt. Erst nach einem Jahr erhielten die Beschwerdeführer eine DVD mit Videoclips, wobei es sich schon nach der Beschriftung nur um Ausschnitte handelte. An entscheidender Stelle gab es Lücken von bis zu einer Minute. Nachdem die Originale von den Beschwerdeführern angefordert wurden, teilte die Polizei mit, dass sämtliche Originalvideos gelöscht seien. Zudem sei auch sämtliche Dokumentation darüber gelöscht, wer die Originale bearbeitete und löschte, auch sämtliche Computerdateien und Festplatten waren gelöscht. Es wurden also Beweismittel während laufender Ermittlungen vernichtet.

Die für den Vorfall in Betracht kommenden Einheiten konnten auf drei ganz konkrete Untergruppen des USK München eingegrenzt werden. Die einzelnen Beamten dieser Gruppen, ein Personenkreis von ca. 30 Personen, wurden jedoch von den Ermittlern nie vernommen. Sie wurden nicht einmal namentlich ermittelt. Stattdessen gab es während der laufenden Ermittlungen ein Treffen im Polizeipräsidium München, an dem sowohl die polizeilichen Ermittler, als auch die Einheitsführer der an dem Einsatz beteiligten Polizeibeamten teilnahmen. Der Inhalt des Gesprächs wurde den Beschwerdeführern jedoch ebenso vorenthalten, wie der Inhalt polizeiinterner Befragungen, für deren Vorliegen sich Anhaltspunkte fanden.

Damit haben die Ermittler gegen sämtliche Mindestanforderungen verstoßen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hinsichtlich der Ermittlungspflicht des Staates bei Verdacht polizeilicher Übergriffe aufgestellt hat. Danach müssen die Ermittlungen umfassend, unabhängig und unparteiisch sein, Beweise rechtzeitig gesichert werden und außerdem muss die Identifizierbarkeit von Polizeibeamten gewährleistet sein. Die Beschwerdeführer hatten daher zunächst Klage beim OLG München erhoben, das jedoch ablehnte mit der Begründung, es sei zumindest nicht gänzlich auf Ermittlungen verzichtet worden und außerdem seien nach so langer Zeit –die Ermittlungen dauerten fast drei Jahre ohnehin keine Erkenntnisse mehr zu erwarten. Die hiergegen eingereichte Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen. Daher war nun die Individualbeschwerde der beiden Geschädigten zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) möglich, die bereits eingereicht wurde. Gerügt wird ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK).

In einer aktuellen Entscheidung vom 07.04.2015 (Cestaro v. Italien, Nr. 6884/11) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Italien wegen eines gewalttätigen Polizeieinsatzes beim G8-Gipfel 2001 in Genua verurteilt. Die Straßburger Richter kritisierten, dass das italienische Strafrechts-System nicht geeignet sei, Täter in solchen Fällen zu ermitteln und zu überführen und damit eine abschreckende Wirkung zu erzielen. Dies verstoße gegen Art. 3 der Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Ein Mangel liege darin, dass uniformierte Polizeibeamte mangels individueller Kennzeichnung nicht Identifizierbar sind. Der EGMR stellte ausdrücklich klar, dass fehlende Polizeikennzeichnung ein erhebliches Hindernis für effektive Untersuchungen darstellt. Polizeibeamte müssten verpflichtet werden, ein Unterscheidungszeichen zu tragen - zum Beispiel eine individuelle Kennnummer (Rn. 217 Cestaro v. Italien).

Damit verurteilte der EGMR nunmehr das fünfte Jahr in Folge ein Land wegen fehlender Polizeikennzeichnung. Zuvor waren bereits Bulgarien (2011) und die Türkei (2012, 2013 und 2014) verurteilt worden. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Fundstellen erhalten Sie in der Anlage in deutscher Übersetzung.

In Deutschland gibt es ebenfalls noch in einigen Bundesländern (z.B. Bayern, Sachsen, Sachsen-Anhalt) keine individuelle Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte, nicht einmal in sogenannten „geschlossenen Einheiten“, die mit Einsatzanzug und Helm ausgestattet sind. Eine Übersicht über die Situation in Deutschland erhalten Sie in der Anlage.

In Bayern tragen die Einsatzkräfte des USK und der Bereitschaftspolizei zwar Rückennummern, diese bezeichnen jedoch nur die jeweilige Untereinheit, d.h. alle Mitglieder einer Gruppe tragen dieselbe Nummer. Ein individuelles Unterscheidungszeichen gibt es aufgrund der strikten Ablehnung der Landesregierung in Bayern weiterhin nicht.

Diese gegenwärtige Situation in Deutschland stellt nach der Rechtsprechung des EGMR einen klaren Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention dar. Diese Rechtsprechung hat der EGMR mit der Entscheidung vom 07.04.2015 noch einmal ausdrücklich bekräftigt.

Anscheinend möchten Bayern und die anderen Bundesländer, die sich einer individuellen Kennzeichnung von Polizeibeamten versperren, dass sich Deutschland in Fragen der Menschenrechte in diese Liste (Bulgarien, Türkei) ebenfalls einreiht.
Marco Noli
Rechtsanwalt

Fanfotos TSV 1860 München




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