01.05.2015 - Roter Stern Belgrad / Partizan Belgrad

​Belgrader Derby eine Kur für die Fankultur?


Der Groundhopper Tobias Plieninger war am vergangenen Wochenende für Faszination Fankurve beim Derby in Belgrad zwischen Roter Stern und Partizan und hat seine Gedanken zum Derby, den Ausschreitungen und der dortigen Fankultur und über dortige Groundhopper für uns aufgeschrieben.

Unterschiedliche Perspektiven und Herangehensweisen
Zum Beginn will ich noch ein paar Gedanken los werden wie ich das ganze Szenario auch aus Blick eines konsumierenden deutschen Fußballfans beschreiben will. In einem Bericht habe ich folgendes Fazit gelesen: „Insgesamt kann man für solch ein Wahnsinns-Derby keine schlechten Worte finden, jedoch ist in Sachen Stimmung mehr drin, was die Lautstärke auf Dauer angeht. Beide Seiten konnten dennoch vollends überzeugen, was die Mitmachquote bei Hüpfaktionen und Armeinsätzen angeht. Ein Tor hat definitiv gefehlt. Wäre dies gefallen, wer weiß was dann gewesen wäre.“ An der Stelle will ich einfach Klartext reden. Mir geht es gar nicht darum hier jemand in die Pfanne zu hauen, den ich gar nicht kenne. Dieses Zitat steht für mich stellvertretend für die Herangehensweise, die mir persönlich nicht gefällt. Da schreiben Leute, die irgendwo in Deutschland wohnen und genügend Kohle haben sich solche Touren leisten zu können. Ob es nun selbst gespart ist oder durch elterlichen Sponsoren finanziert wurde, darüber reden wir gar nicht. Sie maßen sich eine Bewertung an über das Verhalten von anderen Leuten, die in Verhältnissen leben, die sie, wenn sie es überhaupt versuchen, nur schwer nachvollziehen können. Sie bewerten die Lautstärke der Gesänge. Wenn sie überhaupt Kurvengänger einer Kurve sind, dann einer, die nicht nur was Lautstärke angeht, weit von dem entfernt ist, was am Samstag abging. Von Qualität und Inhalt der Melodien reden wir noch gar nicht. Sie bewerten die Qualität von Choreos obwohl sie, wenn überhaupt, nur Ideen einbringen können deren Umsetzung nur im Zusammenspiel mit vielen anderen Menschen möglich ist. Mich nerven solche Berichte einfach nur noch an. Ich versuche in meine Berichte subjektive Eindrücke von mir und anderen Besuchern einfließen zu lassen und grobe Hintergründe zu erklären. Die Bewertung und Suche nach Details überlasse ich euch selbst. Wenn ich solche Berichte wie den zitierten lese, dann denke ich an einen bekannten Hopper, der einmal gesagt hat: „Fußball ist kein Wunschkonzert!“ Ich weiß jetzt nicht ob mein Bericht besser ist oder euch nicht gefällt. Ich hoffe es bringt euch einen Mehrwert. Ihr könnt euch auch in guten Fanzines andere Berichte rein ziehen, doch eigene Erlebnisse wird das sicher nicht ersetzen können.


Das besondere Derby
In einer Umfrage unter europäischen Fans hat das „ewige Derby“ den ersten Platz aller Derbies gemacht. Sportlich sind die großen Zeiten schon lange vorbei. Am 25.04.2013 kamen ca. 40.000 Zuschauer. 1976 waren es 108.000 inoffizielle Zuschauer. Ich nehme es vorweg. Das Spiel endete 0-0 und ich fand es war ein übler Kick gegen selbst die Spiele im Abstiegskampf der Bundesliga noch ein Highlight sind. Was macht dieses Derby also so attraktiv? Zum einen sind es die zahlreichen Mythen und Legenden aus der ereignisreichen Vergangenheit. Nur wenige Derbies fanden öfter statt. Dazu kommt die Fankultur mit ihren vorhandenen Freiheiten für die Fans! Natürlich gibt es auch gewisse Grenzen, doch die sind weitaus dehnbarer als bei uns. Begünstigt ist dies natürlich durch die mehr oder weniger entspannte Policija und auch den nicht so ausgeprägten Medienhype, was das Geschehen in den Kurven angeht. Die Schmerzgrenze der gewöhnlichen Zuschauer ist weitaus höher. Sie haben für eine „Null-Toleranz-Politik“ der Verbände kein Verständnis. Über die Ursachen ließe sich lange auslassen. Die ereignisreiche Geschichte des Balkan spielt dabei auch eine wichtige Rolle. Bleiben wir beim Thema was dieses Derby ausmacht und beginnen mit einem Erlebnisbericht.

Anreise zum Stadion
Die Stadien von Partizan und Roter Stern liegen nur wenige Meter auseinander entfernt. Schon von Ferne sehe ich die Flutlichtmasten und desto näher ich komme desto höher schlägt mein Herz. Auch wenn es nicht mein erstes Derby ist, spüre ich immer mehr die Spannung. An der Straße weiter oben stehen die Delije und ein paar Freunde von Ihnen von Olympiakos Piräus und von Spartak Moskva. Zusammen bezeichnen sie sich als eine orthodoxen Bruderschaft. Am Spieltag vergessen sie die Heiligen oder sie gehen am Sonntag beichten. Ein paar schauen konzentriert was alles passiert. Wenn es dumm läuft kann ich auf wenig Hilfe hoffen.Was sich in den Kurven abspielen wird, das ist unvorhersehbar. Von daher mache ich lieber einen weiten Bogen um die Kurve. Mit einer Mischung aus Adrenalin und Spannung komme ich dem Eingang zur Haupttribüne immer näher. Das ist der Fußball, den ich ihn am liebsten jedes Wochenende haben will. Das ist ein toller Kick, wenn ich schon mit einem Adrenalinschub das Stadion erreiche.

Auf der Haupttribüne nehme ich Platz, hier gibt es beste Sicht auf beide Kurven sowie auf die Gegengerade, die von einem russischen Gaskonzern mit blau weißen Sitzen ausgestattet wurde. Die Kurve der roter Stern Fans ist mit dem Schriftzug „Delije“ (die Mutigen) bestückt. Meine Karte hat gleich viel gekostet wie die Übernachtung im Hostel. Trotz besten Wetter war das Spiel nicht ausverkauft und morgens reichten fünf Minuten Warten nach Öffnung der Kassen


Öffnung der Schüssel
Gleich zu Öffnung betrete ich das Stadion. Im leeren Rund sind nur wenige Fans. Doch als auch die ersten Gästefans kommen ergibt sich ein geniales Schauspiel: Zwei Gruppen von ca. fünfzig Leuten brüllen sich gegenseitig ihren Hass entgegen, was sich im leeren Stadion brachial laut anhört.

Die Kurve der Gäste hat schon mit dem Eintritt den ersten Showdown hinter sich. Auf der Anreise kommt es zu Tumulten, die ich nur von Ferne beobachten kann. Eine Leuchtkugel fliegt höher als das Stadiondach. Der Rauch legt sich sich schnell und nun kommen die Massen der Partizanfans hinein in das geschichtsträchtige Stadion.

Der Spielort
Im Volksmund hat es den Spitznamen Marakana wie der Endspielort der WM 2014 in Brasilien. Im Gegensatz zu dem inzwischen durch einen charakterlosen Neubau verhunzten Pendant in Rio versprüht das Stadion Rajko Mitic noch einiges an Charme. Da vieles noch etwas heruntergekommen ist erinnert es auch an bessere Zeiten als Roter Stern noch erfolgreiche Krimis im Europapokal der Landesmeister mit seinem hitzigen Publikum im Rücken drehen konnte. 2014 wurde es nach dem 2008 verstorbenen Spieler benannt. Mit 572 Spielen kommt er nicht an den Bundesligarekordspieler Charly Körbel heran, der 602 Spiele für seinen Verein absolvierte. Was jedoch die Titel anbelangt ist er dem Frankfurter einiges voraus. Auch als Trainer war er um einiges erfolgreicher als Charly. In Zeiten des modernen Fußball ein Stadion nach einer Spielerlegende zu bennen finde ich jedenfalls sehr erfreulich.


Die Gästefans
Doch kommen wir zurück nach Beograd in den Gästesektor . Der in den letzten Jahren schwelende Konflikt unter den Grobari scheint sich etwas beruhigt zu haben. Beim letzten Derby im Stadion von Roter Stern hatte es schon nach Einlass untereinander gescheppert. Bis kurz vor Anpfiff ist die Trennung der Partizanfans nicht erkennbar. Letztes Jahr war die Kurve der Grobari (Totengräber) noch geteilt in den kleinen Block der Zabranjeni (Die Verbotenen) und einen großen Block der Hauptgruppe (Alcatraz) dazwischen stand eine Polizeikette mit fünfzig Leuten, die ausreichte um die zwei Massen miteinander verfeindeter Partizanfans auseinander zu halten. Die Stimmung bei den Gästen empfand ich als gut. Schon rein optisch waren sie besser als die Heimkurve, weil eigentlich immer geschlossen geklatscht wurde. Sie ließen die versammelten Fans lange warten und starteten eine sehr schöne Pyroshow als es schon dunkel war. Hier kamen Bengalos in mehreren Farben zum Einsatz. Eine Choreo gab es leider nicht. Ob das daran liegt, dass beim letzten Derby im Marakana meterhohe Stichflammen im Gästeblock loderten, das kann ich nicht sagen.

Autorität der Polizei
In einem kleinen Park sitzen ein paar Fans. Da sich parallel die Partizan Fans sammeln will die Polizei den Park räumen. Ein paar junge Roter Stern Fans singen Lieder und wollen bleiben. Ein einziger Polizist mit mächtiger Statur genügt und mit seinem Machtwort hat das Geschehen ein Ende. Vorsitzende Deutscher Polizeigewerkschaften werden es wohl nie verstehen weshalb die mit ihren Feindbildern indoktrinierten Jungs und Mädels auch mit dem dicksten Panzer und einer Büchse voller Pfefferspray niemals solch einen Respekt bekommen werden wie ihre Kollegen in Beograd. Der Vielzahl bei uns eingesetzten Beamten meinen ihr Auftrag sei es die Menschheit und im speziellen Deutschland vor den bösen Ultras zu schützen. Am liebsten würde ich jedem von ihnen einen Tag Kur in Beograd verordnen. Ich würde gerne sehen wie sie 90 Minuten lange beten und sich dabei vielleicht Gedanken machen was denn wirklich Sinn ihrer Arbeit ist. Was glaubt ihr was wohl die Einstellung der serbischen Policija ist? Die Menschheit vor Ultras schützen sicher nicht. Die Menschheit hat andere Probleme. Dazu gehört auch nicht, dass an diesem Tag eine absolute Reizüberflutung statt findet.

Freiräume in beiden Kurven
Was die Ausnutzung von Freiräumen angeht sind beide Kurven ein Paradies. Zwei große Pyroshows, Böller ohne Ende, eine Standard-Choreo mit Fähnchen, geniale Zaunfahnen, Stimmung ohne Ende und viele vereinzelte Pyroeinlagen. Besonders gefällt mir diesmal die Kurve von roter Stern mit der Rauchshow und schönen breiten roten Säulen. In besonderer Erinnerung bleiben auch die unheimlich lauten Böller. Im Hinblick auf das schlechte Spiel ist der gute Support von beiden Seiten aus meiner Sicht wirklich sehr erfreulich gewesen. Was wäre dieses Derby ohne diese Freiheit? Was kann diese Kurven überhaupt bändigen außer sie selbst?

Oldschool vom Feinsten
Aber nicht nur Freiräume werden ausgenutzt. Diesmal geht es weit darüber hinaus. Denn vor dem Anpfiff ereignen sich Szenen, die selbst bei regelmäßigen Besuchern dieses legendären Derbies für große ungläubige Augen sorgen. UD-Lehmis Kultspurch „Wir sind doch nicht in den 90ern“ scheint in Beograd bei einigen Leuten noch nicht angekommen zu sein. Denn was in der nächsten Stunde folgt ist eine Oldschool-Hauerei, die bei mir starke Erinnerungen an die beiden Duelle Dynamo gegen Roter Stern im März 1991 weckt.

Der Stich ins Wespennest
Da es sowas eher selten gibt will ich auch mal genau schildern wie das abging. Die dritte Halbzeit dauerte fast exakt 45 Minuten wurde allerdings aufgrund Ungeduld der Gästefans vor die anderen beiden Halbzeiten gelegt. Los geht es kurz vor Anpfiff. Denn in diesem Moment wird plötzlich deutlich, dass ein größerer Mob von Partizan auf der Gegengerade steht. Ich schätze es waren 3000 der insgesamt 12.000 Gästefans. Kurz danach macht sich eine Gruppe von etwa hundert Leuten auf direktem Wege in Richtung Heimkurve. Für mich ist das ein absolutes Kamikazekommando, denn auf der Gegengerade sitzen nicht nur Familien mit ihren Kindern, sondern auch genügend Leute, die sich das nicht gefallen lassen. Dass ihr Vorhaben nicht wie der Blocksturm durch die BFC-Hools beim Pokalspiel des Jahres 2011 endet, konnten die Angreifer auch erwarten. Für die meisten auf der Gegentribüne wäre es undenkbar, wie die Lauterer, wegen ein paar motivierten Leuten fluchtartig das Stadion verlassen. Ein paar gehen raus. Im Gegensatz zu martialischen Selbstbezeichnungen, wie sie mir von einigen Szenen im Osten der Republik bekannt sind, ist das für einige Besucher der Istok (Osttribüne) auch im eigentlichen Sinne wörtlich zu nehmen. Entsprechend ist auch die Gegenwehr. Unter großem Beifall des Stadions streckt ein Roter Stern Fan mit der Statur eines riesigen Kleiderschranks einen eher dem Federgewicht zuzuordnenden Sportsfreund von Partizan mit einem heftigen Schlag nieder. Dazu muss noch ergänzt werden, dass der Federgewichtler ein brennendes Bengalo in der Hand hält! Unfassbar was da abging. Dann schritt die Policija ein und auf der Istok hat sich eigentlich schon alles schnell beruhigt. Nun geht es aber auf der Sever, der Heimkurve, weiter. Ob nun eher die Riot-Cops oder eher die Delije hier weitermachen wollen ist Spekulation. Irgendwie ist an dem Tag sowieso mehr Spannung drin bei den Delije als ich es von anderen Derbies gewohnt bin. Vor dem Spiel hatte es schon eine leichte Hauerei auf der Sever untereinander gegeben. In der Stadt habe ich viel mehr übermalte Bilder gesehen also sonst. Ein wahre Streetart Battle scheint da im Gange gewesen zu sein. Jedenfalls haben die Delije aus meiner Sicht einfach Bock. Sie fetzen sich in den folgenden Minuten in einer heftigen Schlacht mit den Riot-Cops. Es gibt zuerst ein wildes Tauziehen um einen Zugang zur Istok, der immer wieder zwischen Gendarmerija und Delije wechselt. Nachdem trotz heftigster Angriffe der Delije die Gendarmerija immer mehr kontrolliert, bleibt es dennoch nicht ruhig. Denn es kommen mehr Einheiten nach. Dann wiederum hat, trotz Beruhigung, die Gendarmerija auch Bock und will wohl zeigen, dass sie die Babos in der Höhle des Löwen sind. Sie versuchen nun mit nachrückenden Kräften einen, in meinen Augen unnötigen, Angriff gegen die Sever. Der wird zurückgeschlagen und dann ist aber auch Ruhe im Karton. Als Zeichen des Triumphs bleibt eine Einheit auf der Server stehen. Soweit jedenfalls meine persönliche Interpretation der Abläufe. Es werden sicherlich noch einige Geschichten dazu in Umlauf kommen. Inzwischen kursiert das Gerücht, dass Einsatzkräfte auf der Sever von ihrer Einheit abgeschnitten wurden und auf der Treppe Richtung WC ordentlich kassierten. Meine persönlichen Helden des Derbys sind einige vor allem jungen Delije, die völlig unvermummt nach Durchbruch des Tores gegen die Schutzschilde, der in Schildkrötenformation aufgestellten Policija, kicken. In der eigentlichen Partizan-Kurve bleibt es übrigens die ganze Zeit völlig ruhig. Nur Anfangs werden ein paar Anstalten gemacht, die dann aber schnell enden. Es gibt keinerlei Gesänge oder sonstige Provokationen. Es herrscht einfach nur Ruhe im Karton. Das finde ich absolut beeindruckend wie die da völlig relaxed bleiben, obwohl in der Kurve des Feindes ein absolutes Chaos abläuft. Wieso, weshalb warum? Das kann ich euch nicht sagen und wird Stoff sein für einen der zahlreichen Mythen beim ewigen Derby.


Reaktionen auf der Haupttribüne
An meinem Platz wird viel gelacht und gescherzt. Ein paar Leute sind auch entsetzt. Wenige machen sogar Selfies mit der in Stehplätze verwandelten Kurve. Als sich alles beruhigt brandet großer Beifall auf. Im Lauf des Spiels ist die Tribüne lauter als bisher gewohnt. Bei vielen Liedern stehen sie auf und stimmen ein.

Die Mentalität der Fans
95% der Leute aus deutschen Kurven, den Lesern und mir selbst würde ich am liebsten eine 90 minütige Kur in einer der Kurven verordnen. Was glaubt ihr was es bedeutet ein Fan in einer der Kurven zu sein? Fahnen basteln, Auswärtsfahren, Supporten, Verhalten nach dem Lustprinzip und sich selbst für den Nabel der Welt halten, sicher nicht.Ich denke das ist mehr. Was denn? Zum Beispiel Vereinstreue, Delinquenz, Konsequenz, Unangepasstheit, Loyalität, Zusammenhalt, Opferbereitschaft und Lebensinhalt. Ich denke das ist schon eine andere Welt. Auch die politischen und sozialen Verhältnisse kommen noch dazu. Ich will nicht falsch verstanden werden. Es ist kein Lobgesang auf alles. Ich halte es jedoch für eine hilfreiche Erfahrung für ein anderes Verständnis.

Reaktionen der Medien, Verband und Politik
Am folgenden Sonntag titelten mehrere Boulevardzeitungen groß mit riesigen Bildern.
Ein Fan mit Blut überströmten Gesicht, der von einer Freundin getröstet wird, ist plötzlich Medienstar der serbischen Yellow Press. Auch sein Vorgänger Ivan Bogdnov war wieder im Fokus. Über die Bedeutung seiner Gesten wurde spekuliert, als ob er der Papst wäre. Da ist am Montag auch Freude aufgekommen, als der neue Ivan und seine Freundin zur Arbeit gingen. Ich vermute mal, dass alle ihnen auf die Schulter klopften. Die Zeitungen schrieben von „Krieg in Marakana“ und „blutiger Bilanz“ „Derby im Chaos“ „Rotes Derby“ „Hooligans zerstören den Fußball“. Auch das erinnerte stark an die Neunziger und auch die mantrahaft wiederholte Phrase „Der Verlierer ist der Fußball“. Fragt sich was dem Fußball mehr schadet. Dass roter Stern vom Europapokalsieger zu einer erfolglosen Rumpeltrupe geworden ist hat jedenfalls andere Ursachen. Trotz des Niedergangs kommen die Leute ins Stadion und haben ihr Niveau gehalten oder sogar noch verbessert. Die Bilanz des Tages lautete: 41 Festnahmen, 31 verletzte Polizisten und zehn verletzte Fans. Im Gegensatz zu ähnlich lautenden Schlagzeilen vom Vorjahr fiel jedoch das Echo etwas heftiger aus. Denn diesmal gab es sogar Stellungnahmen von allerlei Politikern und sogar die Gewerkschaft der Policija stimmte ein in den Tenor der Empörung. Vielleicht werden auch noch ein paar Leute, die im Stadion noch jolten, mit einstimmen? Für mich ist dennoch der Eindruck geblieben, dass die Politik und Medien völlig anders damit umgehen als die Mehrzahl der anwesenden Fußballfans. In Gesprächen nach dem Spiel wollten mir einige sogar erklären, dass dies ja völlig normal sei für ein Belgrader Derby. Ich hatte eher den Eindruck sie wollten mit den Riots angeben. Soweit ich mich erinnern kann, kam es zum letzten Mal zu so einer langen Spielunterbrechung beim Derby Anfang des 21. Jahrhundert als die politischen Spannungen mit der Regierung Milosevic sich auf dem Rasen und Rängen entluden.

Ehrliche Worte vom Sicherheitschef
In einem Interview mit dem Portal Mozzartsport sagte Milivoj Mirkov, der Sicherheitschef des serbischen Fußballverbandes, er habe in der Nacht nach dem Derby kein Auge zugedrückt. Er mache sich große Sorgen, dass es Tote gibt, wenn das so weiter gehe. Außerdem gab er an, dass die endgültige Entscheidung das Spiel anzupfeiffen wohlgemerkt durch die Policija getroffen wurde. Er habe auch dafür gestimmt.Weiterhin lobt er ausdrücklich „Ivan der schreckliche“ Bogdanov, weil er die Fans beruhigt habe. Solches Verhalten sei ein Vorbild für andere Fans. Das finde ich echt der Hammer, wenn ich es mir richtig überlege. Der Sicherheitschef lobt einen Typ, der als einzigster Mensch der Welt zwei Spielabbrüche von Länderspielen wesentlich mit verursacht hat. In Deutschland kriechen schon Bosse bei leichten Beleidigungen allen Leuten in den Arsch, die laut danach verlangen. In Serbien lobt ein Sicherheitschef einen international bekannten und wegen Ausschreitungen verurteilten Typen der zudem noch ein bekannter Rechtsextremist ist und schon Jahre im Knast gesessen hat. In aller Öffentlichkeit wird er als Vorbild für andere Fans ernannt. Wie verrückt ist dass denn? Woran liegen diese großen Unterschiede? Für den DFB-Sicherheitschef Hendrik Große-Lefert wäre wohl auch ein Gespräch über ein „sicheres Stadionerlebnis“ mit seinem serbischen Kollegen eine geeignete Kur. Wenn wir von solch ekelhaften aalglatten Typen sprechen, dann muss ich auch noch ergänzen was Mirkovic befürchtet: „Es besteht die Sorge, dass die Ereignisse beim letzten Derby die Entscheidung über die Strafe im Fall des Spiels mit den Albanern beeinflussen. Vielleicht haben sie die Derby-Veranstaltungen abgewartet um zu sehen und ihre Ansichten zu bestätigen. Die Uefa meint, niemand brauche diese Fans. All dies wird über kurz oder lang nach hinten losgehen. Wenn wir nicht durchgreifen um Probleme wie Genua und Drohne zu lösen, werden wir von der Gnade der Führungsetage des europäischen und vom Weltfußball abhängen“. Ich weiß nicht was Mirkovic damit beabsichtigt, doch er legt das Dilemma in dem alle Vereine und Verbände stecken klar und deutlich mal auf den Tisch. Den Verbänden sind Verhältnisse wie in Beograd ein Dorn im Auge. Das wollen sie nicht sehen. Wenn notwendig muss eben eine lebendige Fankultur auf der Strecke bleiben. Auf der Fifa-Seite wird das Derby hoch gelobt, aber nun weht wohl ein anderer Wind.

Versuch der Einordnung
Im Vorjahr hatte ein anderer Vertreter des serbischen Verbandes nach dem Feuerspielen in der Partizankurve folgendes gesagt: „Das ist zu weit gegangen. Ich werde mich persönlich für härteste Strafen einsetzen. Das Derby ist der Maßstab unseres Fußballs. Am Samstag hatten wir die Situation, dass 80 Prozent der Zuschauer das Geschehen im Fanblock und nicht auf dem Platz beobachtet haben. Das muss aufhören.“ Passiert ist nichts. Auch diesmal wird wieder nichts passieren. Davon geht jedenfalls auch die Mehrheit der Zeitungen in einem gewissen Sarkasmasmus aus. Die Offiziellen wissen genauso wie die Journalisten, dass ohne Fans dieses Derby wenig attraktiv ist. Was sollen die Leute denn auf dem Rasen sehen? Wegen diesem Gekicke sind jedenfalls die 40000 Zuschauer nicht gekommen. Besonders verwundert, oder gestört, haben die Ereignisse nach meinen Eindrücken niemanden. Die Botschaft, dass es mit den Hauereien im Stadien nun etwas weiter aus dem Ruder gelaufen ist, die haben, so denke ich jedenfalls, alle Seiten verstanden. Irgendwann im Herbst ist das nächste Derby. Bis dahin werden sich hoffentlich alle wieder beruhigen, um dann vielleicht schlagartig wieder zu explodieren. Dann besteht die nächste Chance zur Kur. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen sie ihren (Nerven)Arzt oder Apotheker!


Mein persönliches Fazit
Das Belgrader Derby ist ein Mythos und was sich an diesem Samstag abgespielt hat, das hätte ich nie gedacht im Jahr 2015 nochmal erleben zu können. „Wahnsinns-Derby“ ist eine Bezeichnung, die ich eigentlich aus Boulevardzeitungen kenne. Trifft es das? So etwas gibt es, wenn überhaupt, nur noch ganz selten zu sehen. Wann gab es bei uns sowas zuletzt? Was würde denn bei uns danach alles passieren? Ich bin absolut glücklich, dass ich das erleben durfte. Der scheiß moderne Fußball wird immer schlimmer. Es macht mir persönlich teilweise immer weniger Spaß zum Fußball zu fahren. Für die Zukunft sehe ich einen schleichenden Prozess in die falsche Richtung. Irgendwann ist der Punkt erreicht an dem ich sage: Es war eine schöne Zeit, aber ich habe keinen Bock mehr darauf. Dann werde ich einen anderen Weg suchen zum Fußball zu fahren. Die Hoffnungen auf ein Besserung werden immer geringer. Von daher ist es für mich eher erstaunlich, dass nur hundert Leute aus Deutschland sich das angesehen haben. Auch in Beograd bleibt die Zeit leider nur manchmal stehen. Marty Mc Fly kann vielleicht mal an einem Samstag Nachmittag die Zeitmaschine in die 90er drehen. Doch auch das kann die Tendenz Richtung Einschränkung der Fankultur wohl nur schwer aufhalten. Von daher würde ich allen empfehlen, wenn sie die Möglichkeiten dazu haben, das zu nutzen so lange es noch geht. Gerne ziehe ich mir für diese Aufforderung den Unmut von allen ohnehin anreisenden Hoppern zu. Den nehme ich bedenkenlos auf mich, denn erstens interessiert mich das nicht was in der Hopperszene alles für Quatsch gelabert wird und zweitens wird sich trotz dieser klaren Aufforderung höchstwahrscheinlich wenig daran ändern. Ich gehe davon aus, dass die am lautesten „gegen den modernen Fußball“ schreien eher ihr Geld in Spielautomaten oder sonst wo rein hauen. Anstatt sich selbst einen Eindruck zu verschaffen genügt es ihnen sich die Bilder und Videos im Internet anzuschauen. Mir geht es auch gar nicht darum wer nun mitreden kann oder nicht. Mich stört nur, dass die meisten nach meinem Eindruck noch nicht einmal den Hauch eines Gespürs davon haben, wenn sie es überhaupt versuchen wollen zu verstehen, wie der ideale Fußball im Umkehrschluss zum modernen Fußball aussehen könnte.

Eindrücke eines älteren Fan von Roter Stern
In einem Gespräch mit einem älteren Zvezda Fan fragte ich ihn was denn das beste Heimspiel gewesen sei. Völlig überraschend kam folgende kurze Antwort: „17.09.1986, Europapokal der Landesmeister, Roter Stern Belgrad gegen Panathinaikos 3-0, 70.000 im Marakana, das Stadion brechend voll, auch mit gefälschten Karten, über zehntausend verrückte Gästefans. Das gab es seither nicht mehr. Nicht mal die Torcida von Hajduk Split hat so viele Leute nach Beograd gebracht. Das wird es wohl auch nicht mehr geben.“ Ein Finale wie 1991, als Zvezda den Titel gewann gegen Olympique de Marseille, zu wiederholen das hält er für unwahrscheinlicher als einen Lottogewinn.

Ausblick
Was sportliche Erfolg anbelangt sind die glorreichen Zeiten schon lange vorbei. Das ist auch Teil des modernen Fußballs, dass eine erfolgreiche Talentschmiede nicht mehr der Schlüssel zum Erfolg ist. Da sind andere Trümpfe notwendig. Das einzige was noch gut ist, das sind die Fankurven. Die sind beide in Europas Kurven ganz oben dabei auf allen Ebnen. Über Ursachen, Gründe des Niedergangs lässt sich viel spekulieren und sinnieren. Sicher ist jedenfalls: Ob es jemals wieder ein Derby wie im April 2015 geben wird ist ebenso mit einigen weiteren Fragezeichen verbunden. Die Unsicherheit ist gewachsen nach dem letzten Derby. Es sieht momentan eher danach aus, dass das ewige Derby, wie andere Highlights der Fankultur, einen ähnlichen Niedergang erleben wie vor einigen Jahren in Italien. Da gehören immer mehrere Seiten dazu. Bisher habe ich immer gehofft, das Belgrader Derby könnte eine Kur für Fankultur sein. Doch inzwischen sieht es eher danach aus, dass die geniale Fankultur selbst auch schrittweise mit den Nebenwirkungen der Rosskur des modernen Fußball zu kämpfen hat. Doch vielleicht gibt es auch darauf eine interessante Antwort? (Tobias Plieninger, Faszination Fankurve, 01.05.2015)






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