02.08.2014 - Werder Bremen

„Das Aggressionspotential war sehr hoch“


Faszination Fankurve sprach mit Till Schüssler, Fanbeauftragter bei Werder Bremen, über das 100. Nordderby gegen den Hamburger SV, kommerzielle Bedürfnisse der Vereine und ein traditionelles Fanbewusstsein sowie Totschlagargumente, weswegen man Pyro nie legalisieren könne.

Faszination Fankurve: Hat sich bei der Mitnahme von Fanutensilien in Ihrem Verein etwas geändert?
Till Schüssler: Nein. Es gibt keine Veränderungen.

Faszination Fankurve: Ein Fanthema der letzten Zeit ist der Anstieg bei Eintrittspreisen vor allem für Gästesektoren. Sehen Sie das als echtes Problem oder ist Fußball in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern immer noch mehr als bezahlbar?
Schüssler: Insgesamt sind die Stehplatzpreise in der Bundesliga auf einem guten Niveau. Allen Vereinen sollte daran gelegen sein, die Preise für den Gästebereich vertretbar zu halten. Zum einen aufgrund der gesellschaftlichen und sozialen Verantwortung gegenüber jungen Menschen und gegenüber allen anderen Personen, die über keine großen finanziellen Mittel verfügen. Zum anderen ist die Stimmung in Heim- und Gästebereichen der deutschen Stadien ein herausragendes und einzigartiges Phänomen, welches durch moderate und somit wertschätzende Preise erhalten bleiben muss. Damit dieser Standard gehalten wird, müssen Vereine und Fans die Stehplatzbereiche weiterhin als ein wichtiges und zu schützendes Gut unserer Fußballkultur ansehen.

Faszination Fankurve: Oftmals wird von Außenstehenden wahrgenommen, dass der Kontakt zwischen Verein und der Fanszene immer problematischer wird bzw. zum Teil nicht mehr existent ist. Wie sehen Sie das allgemein und vor allem im Hinblick auf Ihren Verein?
Schüssler: Eine kurze allgemeine Antwort auf diese Frage ist nicht möglich, da das Verhältnis zwischen Verein und Fans auf vielen unterschiedlichen Facetten beruht und von Verein zu Verein unterschiedlich ist. Es treffen sicherheitstechnische Herausforderungen der Vereine auf die freie Entfaltung der Fans, es treffen kommerzielle Bedürfnisse der Vereine auf traditionelles Fanbewusstsein, es treffen politische Notwendigkeiten der Vereine auf die Einstellungen und Werte der Fans. Wichtig ist deshalb, dass Fans und Vereine trotz einiger unterschiedlicher Positionen ein positives Diskussions- und Streitklima erhalten. Dies bereichert Fans und Vereine über lange Sicht gleichermaßen.

Faszination Fankurve: Letztes Jahr haben die Clubs der 1 bis 3. Liga Strafen in Höhe von ca. 1,7 Millionen Euro nach Fanaktionen zahlen müssen. Die Vereine reagieren unterschiedlich, immer mehr versuchen die Strafe auf die Verursacher zu übertragen. Gibt es dazu einen „Königsweg“?
Schüssler: Den gibt es vermutlich nicht. Sicherlich stellt sich grundsätzlich die Frage, warum Vereine für das Verhalten einiger Fans zahlen müssen. Werden die sicherheitstechnischen Voraussetzungen für die Durchführung eines Spiels eingehalten, wird dieses von den zuständigen Sicherheitsinstitutionen und vom DFB bestätigt und das Stadion darf dementsprechend seine Tore öffnen. Gibt es daraufhin keinerlei Vorkommnisse im Block, gibt es folglich auch keine Beanstandungen. Wird aber Pyrotechnik gezündet, wird anschließend eine Strafe aufgrund von sicherheitstechnischen Defiziten ausgesprochen – Defizite, die vorher weder für Verein, Sicherheitsinstitutionen, noch für die Sicherheitsaufsicht des DFB erkennbar waren und somit nach unserem Verständnis im Nachhinein auch nicht als Defizit erkannt werden können.
Dass Vereine unabhängig davon identifizierte Zündler von Pyrotechnik mit Stadionverboten belegen und von Rechtswegen ein Ordnungswidrigkeits- oder Strafverfahren eingeleitet wird, ist klar durch Stadionordnungen, DFB-Richtlinie und durch die geltenden Gesetze geregelt.
Solange es zusätzlich finanzielle Bestrafungen der Vereine seitens der Sportgerichtsbarkeit gibt, wird es auch Diskussionen um die Weitergabe der Strafen an die verantwortlichen Personen geben. Dass die Strafen an die Vereine für einen Pyro-Vorfall in den letzten zwei Jahren merklich höher ausfallen, verschärft diese Problematik zusätzlich und trägt, wie man merkt, nicht zu einer Lösung des Problems bei.

Faszination Fankurve: Beim Revierderby und beim Spiel Kaiserslautern gegen Dynamo Dresden waren zuletzt weniger als 10 Prozent Gästefans erlaubt. Dies ist seit dem 12.12.2012 erlaubt. Spielt ihr Verein mit dem Gedanken bei manchen Spielen weniger Gästefans zuzulassen?
Schüssler: Wir sehen grundsätzlich keinen Vorteil darin, weniger Fans in den Gästebereich zu lassen. In den Stadien kommt es zu deutlich weniger Vorfällen als im Stadionumfeld. Unabhängig vom Stadionzutritt können gemäß der Reisefreiheit in unserem Land glücklicherweise beliebig viele Fans zum Spielort anreisen. Der angepriesene positive Effekt auf die Gesamt-Sicherheitslage im und um das Stadion ist für uns also nicht erkennbar. Außerdem ist in dieser Diskussion wieder der Wert der Fankultur für unsere Gesellschaft und insbesondere für den deutschen Fußball zu nennen, der durch derartige Forderungen mit Füßen getreten wird.


Faszination Fankurve: Die Mehrheit der Strafen hat mit dem Einsatz von Pyrotechnik zu tun. Seit Jahren ist der Einsatz von Pyro das zentrale Thema, ohne dass sich etwas bewegt. Lässt sich überhaupt eine Lösung finden?
Schüssler: Es gibt derzeit keine gesetzliche Grundlage für die Vereine, die eine Legalisierung ermöglicht. Das Prinzip der separaten Pyrobereiche für ausgebildete Pyrotechniker würde – so sagen es auch viele aktive Fans – nicht dauerhaft befriedigend sein. Es würde maximal einen vorübergehenden positiven Charakter haben, wobei der ursprüngliche Reiz des situationsbedingten und emotionalen Einsatzes von Pyrotechnik für die Fans nicht mehr existieren würde. Diesem Konzept stehen neben der daraus resultierenden Frage der langfristigen Einhaltung der vielen Voraussetzungen und Einschränkungen auch grundsätzlich kaum überwindbare Hürden im Weg. Zum Beispiel das Problem für Asthmatiker, die das Stadion nicht mehr ohne das bewusste Eingehen einer gesundheitlichen Gefährdung betreten könnten. Oder Eltern, die ihre Kinder unbewusst in gesundheitliche Gefahr bringen könnten. Schließlich lässt sich nicht vorhersehen, welchen Weg der entstehende Rauch der Fackeln einschlägt – auch nicht, wenn diese in einem abgetrennten Bereich von ausgebildeten Pyrotechnikern gezündet werden. Ja – diese Beispiele sind häufig genannte „Totschlagargumente“ – aber ein Veranstalter eines derartigen Großereignisses kann diese nun einmal nicht außer Acht lassen.


Faszination Fankurve: Was waren die relevanten Fanthemen in Ihrem Verein/Fanszene in der vergangenen Saison?
Schüssler: In diesem Jahr war das 100. Nordderby gegen den Hamburger SV ein großes Thema. Wochenlang fieberten die Werderfans diesem Spiel entgegen und die Stadt wurde dementsprechend „verziert“. Die Stimmung war phänomenal, ebenso wie die Choreografie, die in unserer Kurve zu sehen war. Das Aggressionspotential rund um dieses Spiel war bedauerlicherweise ebenfalls sehr hoch, es gab zahlreiche „Brandherde“. Diese Situation gab folglich leider auch der Aufstockung des Polizeieinsatzes durchaus Recht. Man kann die massive Präsenz der Polizei natürlich kritisieren, man muss dann aber auch das eigene Handeln selbstreflektieren. Es sollte das gemeinsame Interesse der Fans sein, durch deeskalierendes Verhalten der Polizei keine weiteren Argumente für das Hochschrauben der Sicherheitsspirale zu liefern. Es ist es nicht wert, die Fankultur, die für viele Millionen Menschen ein wichtiger Lebensinhalt ist, durch Gewaltaktionen aufs Spiel zu setzen. Die aktiven Fans haben bundesweit oft genug bewiesen, wie einzigartig, kreativ und bedingungslos sie ihre Vereine unterstützen. Gewalt ist kein Aspekt dieser großartigen Unterstützung - sie ist ein willkommenes Argument für die Befürworter einer sterilen und durchregulierten Event-Arena. (Faszination Fankurve, 31.07.2014)

Fanfotos Werder Bremen




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