01.11.2005 - WM 2006

Eins zu Null für Eins-oder-Null


Der Chip im Ball ist nur die Spitze des Eisbergs. Das digitale Zeitalter hat auch den Fußball längst eingeholt. Abhörsichere Funknetze für Sicherheitskräfte, Verkehrsmanagementsysteme, die auch Fußgängern helfen, und High Definition TV machen die Fußball-WM 2006 zur ersten Multimedia-WM in der Geschichte des Turniers. Sie verwandeln so manches Stadion in einen High-Tech-Tempel.

Ein Schreckensszenario für jeden Fußballfan: Die WM-Tickets liegen griffbereit im Handschuhfach, das Flutlicht ist bereits in Sichtweite, doch die Blechlawine erlaubt weder Vor noch Zurück. Stau, und kein Ende in Sicht. Der lang ersehnte Anpfiff ertönt aus dem Autoradio statt aus dem Anstoßkreis. Damit den vielen Fans bei der WM dieses Schicksal erspart bleibt, werden derzeit an vielen Stellen so genannte

Verkehrsmanagementsysteme entwickelt. Sie helfen, Staus zu umgehen und den schnellsten Weg ins Stadion zu finden. An High-Tech kommt die WM auch im Stadion nicht vorbei. Alle sollen vom gestiegenen Standard profitieren. Sogar die Spieler. Der Chip im Ball signalisiert dem Schiri genau, ob ein Ball im Aus war oder nicht. Davon verspricht sich die FIFA mehr Gerechtigkeit. „1986 in Mexiko gab es die definitiv letzte WM, ohne den Einsatz von Informationstechnologie. Seitdem hat eine technische Revolution stattgefunden“, sagt Wolfgang Niersbach, Geschäftsführender Vizepräsident des Organisationskomitees für die WM.

Freie Fahrt für Fußballfans

Sie beginnt freilich weit vor den Toren des Stadions, im Auto. In Stuttgart etwa existiert ein Verkehrsmanagementsystem, das alle relevanten Informationen über den Verkehrsfluss sammelt, sie miteinander verknüpft und optimal auswertet. So können Leitstellen besonders schnell reagieren, wenn es mal wieder stockt. Im Gegensatz zu älteren Systemen ist dieses Verkehrsmanagementsystem auch in der Lage, kurzfristige Ereignisse aufzunehmen. Herkömmliche Verkehrsleitsysteme stoßen gerade hier an ihre Grenzen. Sie erfassen den Verkehrsfluss ausschließlich über einfache Messtechnik, wie etwa Stromkabel im Straßenbelag zur Verkehrszählung. Auf unerwartete Störungen können sie nicht reagieren, der Verkehr kommt zum Erliegen. Das Stuttgarter System ermöglicht es, die neuesten Verkehrsnachrichten direkt auf das Navigationssystem oder das Handy zu erhalten. Bei einem Unfall auf der Strecke zum Stadion erhalten Verkehrsteilnehmer dann unmittelbar die richtige Umleitungsempfehlung. Denkbar ist diese Variante auch, wenn am Stadiontor Fangedränge entsteht. Mit der entsprechenden SMS aufs Handy könnten die Zuschauerströme besser verteilt werden. Für diese und ähnliche Fälle setzt das Verkehrsmanagementsystem einen so genannten mobilen Client ein. Dieser mit Laptop bewaffnete Verkehrsingenieur kann über sein Notebook unmittelbar in den Verkehrsfluss eingreifen. Er steuert den Verkehr mit seinem Laptop über variable Wegweiser. Verkabelung benötigt er nicht. Sein Arbeitsplatz kann ein Hubschrauber sein.

Aber Schlangen vor den Einlässen wird es aller Voraussicht ohnehin nicht geben. Dafür sorgt das elektronisch lesbare Ticket. Der gute alte Kartenabreißer gehört mit dieser Lösung, die bereits viele Bundesligisten bevorzugen, endgültig der Vergangenheit an. Doch das elektronische Ticket ist umstritten, weil auf ihm ein so genannter RFID-Chip untergebracht sein wird. Dieser Chip macht das Ticket einmalig. „Auf dem Chip werden aber keine personalisierten Daten hinterlegt sein“, sagt Datenschützerin Renate Hillenbrand-Beck. Das glauben nicht alle. Lediglich eine verschlüsselte Identifikationsnummer soll dazu dienen, das Ticket beim Eintritt ins Stadion zu identifizieren: Am Stadioneingang funkt der Chip einem Lesegerät aus kurzer Distanz seine Nummer zu, die dahinter geschaltete Datenbank stellt fest, ob das Ticket gültig ist und gibt das Drehkreuz frei. Der für die WM gewählte RFID-Chip soll lediglich bis zu 15 Zentimeter weit funken können. Welchen Vorteil er dann noch gegenüber denen hat, die durch einen Leseschlitz geführt werden, erschließt sich nicht.

Brillant fernsehen

Weniger zweifelhaft, wenn auch ähnlich diskutiert ist die Umstellung des Fernsehens auf das HDTV, das High Definition Fernsehen. Die Bildqualität sei „brillant“ heißt es. Ob das Bildformat von 16:9 indes einen Vorteil bringt, ist umstritten. Wer nicht rechtzeitig auf die breiten Monitore umstellt, wird während der WM wohl lästige schwarze Balken am oberen und unteren Bildrand erdulden müssen. Die TV-Zuschauer mit herkömmlichen und immer noch funktionalen Geräten sehen sich zu unnötigen Ausgaben genötigt. Der Rechteinhaber Infront hält als Argument dagegen, wenn sich bei der WM 1974 auch alle Fernsehteilnehmer gegen den damals recht frischen Farbfernseher gesträubt hätten, würden wir heute immer noch schwarz/weiß sehen – auch irgendwie einleuchtend. In jedem Fall werden die Übertragungen aufwändiger sein als noch vor vier Jahren – egal ob im Format 4:3 oder 16:9. Allein 15.000 Medienvertreter werden erwartet. Jedes Spiel verfolgen mindestens 20 digitale Kameras. Klar, dass auch die Journalisten neue Techniken einsetzen. Bei der WM wird jedes Stadion mit einem W-LAN ausgerüstet sein. Das Wireless, also kabellose, Local Area Network sorgt dafür, dass die Bilder der Fotografen vom Spielfeldrand in Sekundenschnelle ins Pressezentrum gelangen. Von dort werden sie in die Redaktionen der Zeitungen und der Internetplattformen gebeamt – mit den leistungsstärks-ten Internetverbindungen, die es derzeit gibt. Allein beim Finale werden sie im Olympiastadion in Berlin 3.000 Teilnehmer den Zugriff ermöglichen. Als Knotenpunkt vom Stadion in die weite Welt dienen dabei in jeder Arena vier Flight Cases. An jeder Ecke des Spielfelds einer. Damit auch nichts schief geht, werden alle während der 90 Spielminuten von je einem Servicemitarbeiter überwacht.

Gut behütet die FIFA auch ihren Media Channel im Internet. Böse Zungen behaupten, er diene nur dazu, unerwünschte Journalisten vom Stadion fernzuhalten, so bequem scheint er. Man kann Wolfgang Niersbach tatsächlich missverstehen, wenn sagt: „Selbst auf seinem Hotelzimmer erhält ein Journalist alle wichtigen Informationen – bis hin zu aktuellen Zitaten von Trainern und Spielern.“ Der Media Channel liefert Zusatzinformationen zur Website speziell für Medienleute. „Ein phantastisch bestücktes Angebot mit allen nur denkbaren Informationen bis hin zu exakten Trainingszeiten und Presseterminen der einzelnen Mannschaften“, macht Niersbach Werbung in eigener Sache für eine eigentlich alltägliche IT-Lösung. Anderenorts nennt man so etwas Intranet.

Ein ganz anderes Netzwerk nutzen die Ordnungsdienste im Stadion: Tetra – das digitale Funknetz – sorgt für mehr Sicherheit. Ob Polizei, Rettungskräfte oder private Sicherheitsdienste – bislang betrieb jeder sein eigenes Funknetz. Probleme waren da vorprogrammiert: Mussten Einsätze über verschiedene Funknetze koordiniert werden, ging durch umständliche Umschalt- und Login-Prozeduren kostbare Zeit verloren. Auch die Abhörsicherheit konnten analoge Netze kaum gewährleisten. Und wenn Einsatzkräfte untereinander Daten austauschen sollten, mussten analoge Systeme schlichtweg passen. Mit Tetra lassen sich jetzt auch Personenüberprüfungen leichter durchführen, denn der digitale Funk ermöglicht natürlich auch Datenbankabfragen. Für die Anwender besonders komfortabel: Mit Tetra gelangen jetzt alle Daten und Töne auf ein Endgerät. Bisher mussten die Sanitätsdienste mit den Funkgeräten jonglieren, um die Durchsagen der Polizei und der Ordner in ihr eigenes Netz weiterzugeben. Jetzt wartet in den Leitstellen der Einsatzkräfte nur noch ein Funkgerät, wo vorher gleich ein ganzes Sammelsurium im Wettstreit um Aufmerksamkeit piepste. Und Tetra, das seinen Vorgängern übrigens in puncto Soundqualität turmhoch überlegen ist, kann noch mehr: Es schlägt die Brücke zum Verkehrsmanagement. In Nürnberg nutzen gleich mehrere Betriebe des ÖPNV das digitale Netz. Sie teilen sich nun zu bestimmten Zeiten eine Leitstelle, wo früher Schwesterleitstellen funkten, was das Zeug hält. Für die Verkehrsaktiengesellschaft Nürnberg wird gerade eine andere Tetra-Anwendung aufgebaut. Damit werden die hohen Anforderungen an den fahrerlosen Betrieb der neuen U-Bahn-Linie U3 erfüllt.

Tor oder nicht Tor

Spectaculum der digitalen WM 2006 bleibt trotz aller anderen Innovationen der Chip im Ball, der strittige Tor- und Aus-Entscheidungen erleichtern soll, indem er seinen Standort funkt. Wann der Chip kommen wird, ist ungewiss, dass er kommt, gilt als sicher. Bei der U17-WM wurde „Smartball“, wie das Gerät heißt, erfolgreich getestet. Die Entscheidung über seinen Einsatz fällt die FIFA dennoch erst am 4. März: „Wir waren mit dem Einsatz sehr zufrieden. Aus unserer Sicht lag die Schwierigkeit darin, dass wir den Chip im Ball befestigen mussten, ohne dass sich die Eigenschaften des Balles verändern dürfen. Dafür haben wir zwei Jahre Entwicklungsarbeit investiert“, sagt Georg Kovacic, Unternehmenssprecher von Adidas, die das Prestigeprojekt der entwickelnden Cairos AG unter ihre Fittiche genommen hat. Lediglich der Klang beim Schuss habe sich teilweise verändert, berichtet Kovacic über die ersten Eindrücke von der U17-WM. Um das System weiter zu verbessern, wurde jetzt eine zweite Testphase während der Klubweltmeisterschaft im Dezember in Japan vereinbart.

Das technische Prinzip der Ortung ist einfach. Der Chip im Ball funkt an verschiedene Referenzsender, die rund um das Spielfeld und an den Flutlichtmas-ten postiert sind. Alle Daten werden verschlüsselt, damit kein Saboteur auf die Idee kommt, den Chip mit irgendwelchen Funkwellen zu verwirren. Aus den verschiednen Entfernungen und Winkeln lässt sich die Position des Balles jederzeit bestimmen – millimetergenau. Der Chip ist dabei nicht viel größer als eine 10-Cent-Münze. Sein großer Vorteil: alles geschieht in Sekundenschnelle. Das macht ihn zum großen Gegenspieler des Videobeweises, der bei kniffligen Entscheidungen eine lange Spielunterbrechung mit sich bringt. Ob der Ball eine Line überquert oder nicht, ist übrigens nur die erste Frage, die der Chip beantworten könnte. Medienvertreter würden ihn gerne auch in den Schienbeinschonern der Spieler verstecken. Nicht um sie zu orten, sondern um Aufschlüsse über ihre Laufleistung und Laufwege zu erhalten. Das riecht nach noch mehr zweifelhaften Statistiken. Poldis Tore pro Kilometer, seine Spitzengeschwindigkeit im Sprint und die Länge seiner schöpferischen Ruhepausen. All das wäre kein Mythos mehr. Nach Willen der FIFA soll „Smartball“ allerdings die einzige technische Innovation im Fußball bleiben. „Die FIFA vertritt den Standpunkt, dass der Fußball nicht zu technisch werden soll“, so FIFA-Sprecher Andreas Werz. Aber: Wie könnte man ihn denn noch mehr aufmotzen? Das Mikro im Ball, das den Lattenkracher überlaut ins Wohnzimmer überträgt? Das Mikro am Revers des Schiritrikots, das daheim jeden mithören lässt, wie bei Skandalreferee Robert Hoyzer die Scheine in die Brusttasche gleiten? Oder die Kamera im Schussfuß von Schnibbelkönig Roberto Carlos, die das Geheimnis seiner phänomenalen Technik lüftet?

Gewiss, alles Überlegungen, die nach der WM eine Rolle spielen werden. Dennoch scheiden sich schon jetzt am Chip im Ball die Geister. Sogar der selbst erklärte Technikfreak Jürgen Klinsmann zeigt sich skeptisch, wenn es um den „Smartball“ geht: „Ich halte es beim Fußball für wichtig, nicht alle Emotionen rauszunehmen. Diskussionen gehören einfach dazu, und im Zweifel muss man auch mal ein zweifelhaftes Tor hinnehmen.“ Stimmt. Der Fußball wäre sehr viel ärmer ohne seine endlosen Diskussionen um das Wembley-Tor. ?(Faszination Fankurve/Andreas Schulte, 1.11.2005)






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