09.12.2014 - Ultras

„Ganze fankulturelle Strömung pauschal kriminalisiert“


Europas größte Fanorganisation, Football Supporters Europe (FSE), kritisiert die aktuellen Maßnahmen in Spanien gegen Ultras. Dort werde eine gesamte Fanströmung pauschal kriminalisiert, bevor eine Bewertung der Vorfälle möglich ist, was die Ultras in die Hände von Radikalen treiben könne.

Faszination Fankurve dokumentiert die Pressemitteilung von Football Supporters Europe:

Football Supporters Europe verurteilt die jüngste Gewalt im Fußball in Spanien, mahnt jedoch zu einer gründlichen Untersuchung und Auswertung der Ereignisse von Madrid und zu einer dringenden Abkehr von kurzfristigen, pauschalen Interventionen gegen bestimmte Fangruppierungen im ganzen Land.

Mit Bestürzung haben wir von Football Supporters Europe (FSE) vom Tod des Fußballfans Francisco Javier Romero Taboada erfahren. Ein Menschenleben ist kein Fußballspiel der Welt wert. In vorderster Linie möchten wir im Namen von FSE daher den Hinterbliebenen und Freunden des Opfers unser vollstes Mitgefühl aussprechen.

Trotz aller Trauer und Wut über den sinnlosen Tod eines Fußballfans oder gerade deshalb, sollte es jetzt aber unseres Erachtens darum gehen, nicht den Blick für das Wesentliche zu verlieren. FSE verurteilt Gewalt im Fußball aufs Schärfste, denn sie steht Werten wie Toleranz und Sportsgeist und lebendiger Fankultur entgegen. Die Reaktionen der spanischen Clubs und der Politik sind unserer Meinung nach dennoch falsch und bergen das Risiko fataler Folgeerscheinungen.

Nach wie vor ist unklar, was sich am Morgen des 30. November in den Straßen Madrids genau abgespielt hat. Dokumentierte Aussagen und Berichte sind durchaus widersprüchlich, abschließende seriöse Untersuchungsergebnisse liegen noch nicht vor, weshalb eine eingehende Bewertung der Vorfälle derzeit nicht möglich ist.

Trotzdem reagieren Politik, Fußballverbände und Clubs bereits jetzt. Dies ist unter dem Eindruck der schockierenden Ereignisse und des Todes eines Fans und dem daraus entstehenden öffentlichen Druck sogar in Teilen durchaus nachvollziehbar. Allerdings halten wir die nun aus diesem Vorfall abgeleiteten Maßnahmen gegen ganze Fangruppen, die sich als „Ultras“ definieren, im gesamten Land für höchst problematisch und kontraproduktiv: ganzen Gruppen wurde bereits der Zutritt zu ihren jeweiligen Stadien verboten, ohne dass sie in die Vorfälle involviert gewesen wären und es steht im Raum, eine ganze fankulturelle Strömung pauschal zu kriminalisieren.

Zum Einen darf bezweifelt werden, dass die Kollektivstrafen gegen diese Gruppierungen im ganzen Land mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar sind. Fast noch schwerer wiegt aber zum Anderen, dass damit auch die Mehrheit all derjenigen Fans in diesen Gruppen zumeist junger Erwachsener bestraft werden, die weder gewalttätig noch rassistisch agieren, sondern vielmehr in den letzten Jahren eine positive Entwicklung vollzogen haben. Eine ganze Reihe dieser nun pauschal verurteilten Gruppen engagieren sich sogar seit vielen Jahren aktiv und öffentlich für soziale Belange und gegen Rassismus im Fußball und in und um ihre Vereine und Städten. Nun allerdings werden diese mit seit Jahren offen äußerst rassistischen Gruppierungen in einen Topf geworfen und gleichermaßen pauschal abgestraft.

Dies wirft die Entwicklung einer positiven Fan- und Zuschauerkultur, insbesondere unter Einbeziehung jugendlicher und jungerwachsener Fans in Spanien, voraussichtlich nicht nur um Jahre zurück. Es ist zudem im europäischen Vergleich sehr sichtbar, dass solcherlei kurzfristige Pauschalmaßnahmen als Reaktion auf Vorfälle zwar massen- und medienwirksam erscheinen, aber faktisch nicht zu einer nachhaltigen Verringerung der Gewalt und oder viel zu lange vernachlässigter Probleme rund um Rassismus und Diskriminierung im spanischen Fußball beitragen werden.

Als FSE sind wir der Ansicht, dass mit der Kollektivbestrafung von ganzen Fangruppen die moderaten Kräfte in ihren Reihen in die Radikalität getrieben werden, da sie unschuldig mit Repressionen belegt werden. Hier ist also eine höchst vorsichtige Einzelfallbetrachtung mit Augenmaß nötig.

Wir plädieren daher gegenüber den Entscheidungsträgern in Spanien mit Nachdruck dafür, die Ereignisse von Madrid mit der nötigen Zurückhaltung zunächst eingehend zu analysieren und zu bewerten, und sich nicht durch einen öffentlichen Druck in voreilige Reaktionen und Maßnahmenpakete gegen ganze Gruppen von Fans treiben zu lassen.

Vielmehr konnte bisher nur dort in Europa eine effektive Eindämmung von Phänomenen wie Gewalt und Rassismus im Fußball erreicht werden, wo eine differenzierte Betrachtung der Einzelfälle und Dialog gerade MIT den scheinbar problematischsten Fans und umfangreiche pädagogische Maßnahmen die traditionellen Sicherheitskonzepte ergänzen. Dort hingegen, wo repressive und auf ganze Gruppen statt auf die individuellen Einzeltäter fokussierte Ansätze vorherrschen, hat dies nicht nur massive Zuschauerrückgänge zur Folge sondern behindert auch massiv die Entwicklung und Etablierung positiven Fanverhaltens, gerade unter jüngeren Zuschauerschichten.

In Spanien haben wir gemeinsam mit unseren Mitgliedern und Netzwerken in Spanien in letzter Zeit sehr positive Schritte im Dialog mit der Anti-Gewalt Kommission in Spanien gemacht. So reichten die nationalen Fanorganisationen unter unseren Mitgliedern FASFE (Federación de Accionistas y Socios del Fútbol Español – FASFE) jüngst eine Analyse der bestehenden Gesetzgebung in Spanien gegen Gewalt und Rassismus bei den spanischen Behörden ein und RAHF (Red de Aficionados e Hinchas al Fútbol) legte Vorschläge für umfassendere ergänzende präventive Maßnahmen im Umgang mit Stadionverboten vor.

Diese Fans sind nach wie vor gesprächsbereit und wollen aktiv an einer Lösung bestehender Probleme mitarbeiten. Aber auch sie sind von den Vorfällen, aber auch von den nun angekündigten Konsequenzen seitens der spanischen Behörden entsetzt und rufen dringend zur Entwicklung alternativer Lösungsansätze auf – die die positiven Elemente einer Fankultur bewahren können, ohne dabei erwiesene Rassisten oder Gewalttäter in und um die Stadien in Schutz zu nehmen.

Wir möchten daher dringend an die Verantwortlichen in Spanien appellieren, diese jüngsten positiven Entwicklungen im Dialog mit den Fans verschiedener Gruppierungen im eigenen Land gerade jetzt nicht aufgrund eines solch tragischen und schockierenden Vorfalls zugunsten scheinbar einfacher, kurzfristiger Mittel fallen zu lassen. Gerade jetzt sollte es unbedingt gelten, den Gesprächsfaden zu den progressiven Kräften unter diesen Fans, weiter aufzunehmen und sogar mehr denn je zu intensivieren.






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