01.09.2004 - TSV 1860 München

Giesing lebt!


Noch im Frühjahr hatte Münchens Oberbürgermeister Christian Ude eine Rückkehr von Sechzig ins „Sechzger“ ausgeschlossen. Doch es kam anders: Seit dem 8. August spielen die Löwen wieder an der Grünwalder Straße. Sehr zur Freude der Fans.

Knapp zwei Monate zuvor, am 15. Juni, hatte der TSV 1860 München das lang ersehnte Sicherheitszertifikat des Kreisverwaltungsreferates erhalten. Die Auflagen sahen vor, 39 von der DFL geforderte Nachbesserungen in den Bereichen Infrastruktur, Sicherheit und Medientechnik umzusetzen. „Einer der wichtigsten Punkte war, dass die Kabinen noch eigene Toiletten erhalten. Es war für die Fußballer offensichtlich nicht zumutbar, vorher durch einen Gang zu gehen“, sagt Roman Beer (24), ein Experte in Sachen Sechzger-Stadion, der erst kürzlich das Buch „Kultstätte an der Grünwalder Straße“ veröffentlichte.

Das erste Liga-Spiel der Löwen nach neun Jahren in ihrem angestammten Gehege – zwischendurch traten sie hier lediglich im UI-Cup an – war als Bewährungsspiel deklariert, die Fans standen unter dem Druck „Wenn es nicht klappt, dann wieder ab ins ungeliebte Olympiastadion“. Am Ende des Tages bescheinigte die Polizei jedoch „vorbildliches Verhalten“ – die Strafversetzung in der Münchener Norden ist somit bis auf weiteres ausgesetzt.

Nicht allerdings der Umzug in einen noch nördlicher gelegenen Stadtteil. „Allianz Arena ab 2005“ verkünden die Werbebanden und machen schon jetzt klar, dass das 1860-Retro-Feeling auf Giesings Höhen nur von begrenzter Dauer sein wird. Gerade deshalb wird dieses noch einmal in allen Zügen ausgekostet. „Schon Stunden vor dem Spiel waren alle Biergärten voll“, sagt Thomas Mrazek (40), Journalist und seit 30 Jahren Löwen-Fan, „endlich war wieder Leben im Stadtteil.“

Und im Gegensatz zu früher, gab es kein Verkehrschaos, denn viele fuhren mit der U-Bahn. Lange Warteschlangen dagegen an den Zugängen. Das Stadion ist nun – gemäß den Vorschriften – in vier Sektoren unterteilt. Allerdings gab es zu wenige Eingänge, weshalb der Anpfiff um 10 Minuten verschoben wurde.

Dem Anlass entsprechend gab es eine Choreo über die ganze Gegengerade: „Ganz Giesing steht Kopf“, dazu der „umgedrehte“ Löwe als Blockfahne. Da die Gegengerade, wie das gesamte Stadion, rappelvoll war (innerhalb eines Vormittags waren alle 21.272 Karten für das historische Spiel vergriffen) klappte diese auch sehr gut.

Die Ultras versammelten sich in der Westkurve, während sich auf der Gegengerade ein Stimmungsblock von 100 so genannten „Olympiastadion-Verweigerern“ sammelte. Die Koordination zwischen beiden Gruppen verlief noch nicht optimal. In manch einer Situation sangen sie gegeneinander an. Roman Beer: „Das lag auch daran, dass der Block J zwischen beiden Bereichen nicht geöffnet wird. Deshalb hat es mit der Stimmung noch nicht so geklappt.“

Den meisten Fans war dies nicht so wichtig, denn die Gefühlswallungen, die der Nachmittag auslöste, überwogen: Joachim Trosch (48) aus Hemsbach in Nordbaden, der die Sechzger schon seit den 70er Jahren verfolgt und seit 19 Jahren Vereinsmitglied ist, fasst seine Empfindungen zusammen: „Im April 1995 hatte ich hier das letzte Punktspiel erlebt und es bis zu jenem 8. August 2004 niemals mehr für möglich gehalten, dass ich, wie schon vor über zwanzig Jahren zu Bayernliga-Zeiten, wieder meinen Stehplatz in der Westkurve rechts unterhalb der legendären Uhr einnehmen würde.“

Als das Spiel begann, überkamen ihn die Emotionen endgültig: „Ich war die ersten zwanzig Minuten des Spiels in meine Gedanken versunken, verfolgte das Spiel nur nebenbei. Dabei dachte ich immer wieder an die Worte des Herrn Wildmoser, der sich in der Stadionfrage so permanent stur gegen den Willen der meisten treuen Anhänger gestellt hatte: ‚Es geht halt nicht!’. In diesem Augenblick rief jemand zwei Reihen oberhalb von mir ‚Es geht halt doch!’“

Und wie sich die Zeiten ändern: Roman Beer, der sich lange als Vorsitzender der Initiative „Freunde des Sechzger-Stadions“ für eine Rückkehr eingesetzt hat und somit in Wildmosers Zeiten als Opposition im Verein galt, wird ans Mikro gebeten, um im Zuge der Promotion seines Buches Publicity für die neue alte Spielstätte zu machen.

Thomas Mrazek zieht ein Fazit des Tages: „Der kollektive Orgasmus hat nicht stattgefunden. Es war ganz nett, aber man hat gemerkt, dass nach neun Jahren ein großes Loch da war. Für einige war es neu, andere haben zu viel erwartet.“ Immerhin: „Wie in alten Zeiten hallten die Sprechchöre ‚Sechzig, Sechzig, Sechzig’ von der Westkurve und der Gegengerade durch das alte Stadion und ganz Giesing.“ (Faszination Fankurve, 01.09.2004)

Fanfotos TSV 1860 München




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