18.10.2010 - Fandemo 2010

Redebeiträge der Fandemo 2010


Vor etwas mehr als einer Woche fand die dritte bundesweite Fandemo unter dem Motto „Zum Erhalt der Fankultur“ in Berlin statt. Ziel war es nicht nur geschlossen friedlich und bunt durch die Hauptstadt zu ziehen, sondern viel mehr mit Redebeiträgen die Probleme offen anzusprechen.

Faszination Fankurve dokumentiert die Redebeiträge der Harlekins Berlin 98:

An dieser Stelle möchte ich, als Vertreter der Harlekins Berlin und als Vertreter der ersten deutschen Ultrageneration die Gelegenheit nutzen und ein paar wichtige Worte an die anwesenden Gruppen richten. Es freut mich und natürlich besonders alle Organisatoren, dass heute hier so viele Gruppen von so vielen, verschiedenen Vereinen angereist sind, um gemeinsam für ihre Ziele und Vorstellungen von Fußball und Fankultur zu demonstrieren. Doch bevor wir hier heute auf die Straße ziehen um einen symbolischen Grundstein für eine bundesweite und vereinsübergreifende Protestkultur zu setzen, sollten wir uns auch mit unseren eigenen Fehlern und Irrtümern beschäftigen!

Die Ultrabewegung in Deutschland ist so stark wie noch nie. Viele Ultragruppen führen mittlerweile ihre Heimkurve an und wissen einen großen Kreis an Mitgliedern, Sympathisanten und Unterstützern hinter sich. Der Organisationsgrad vieler Gruppen ist atemberaubend, es werden selbständig Räumlichkeiten verwaltet, riesige Choreos geplant und umgesetzt und regelmäßig Sonderzüge in Eigenregie durchgeführt. Selbst scharfe Kritiker müssen anerkennen, dass seit dem Einzug der Ultras wieder ordentlich Leben in den deutschen Kurven herrscht und wir uns im europäischen Vergleich nicht verstecken müssen. Ultra ist in Deutschland mittlerweile eine etablierte Jugend- bzw. Subkultur und in vielen Vereinen ein fester Bestandteil des Vereins und der Fanszene...

Doch Ultra ist mittlerweile auch der Jugendliche, der bereits nach dem fünften Stadionbesuch denkt, er sei nun automatisch in einem elitären Kreis der Fanszene aufgenommen und dürfe sich nun alles erlauben. Ultras ist heute, dass man sich im Internet möglichst imposant darstellt. Ultra ist leider auch, dass einige Gruppen nicht davor zurückschrecken gegnerische Fans mit Steinen und Flaschen einzudecken und somit das Risiko in Kauf nehmen, dass es zu schwersten Verletzungen des Gegenübers kommt. Vieles dreht sich heutzutage leider um ein Image das anscheinend gepflegt werden muss. Man muss nicht mehr mit vielen Leuten auswärts fahren, man muss nicht mehr die gegnerische Heimkurve in Grund und Boden singen, man muss nur noch wissen wie man sich mit irgendwelchen möglichst spektakulären Aktionen einen Namen machen kann und diesen dann in der großen, weiten Welt des Internets verbreitet. Gewalt und Rumgepose nehmen dabei eine tragende Rolle ein und ziehen sich momentan wie ein roter Faden durch die deutsche Ultrabewegung. Die Rede ist dabei weder von emotionalen Ausbrüchen wie denen hier in Berlin und in Bochum, oder den verletzten Nürnbergern durch Pyrotechnik im eigenen Fanblock. Was ich meine sind geplante Angriffe auf Fanprojekte, bewaffnete Fans auf Beutezug oder Einbrüche in Räumlichkeiten von anderen Ultragruppen.

Auch unter gegnerischen Fan- und Ultragruppen muss es Tabus geben die man einfach nicht bricht! Hinzu kommt eine Überflutung durch kleine Gruppen und Einzelpersonen, welche lediglich im Internet auftreten und diverse Internetseiten und Foren nutzen, aber weder in der eigenen Szene aktiv sind und somit auch keinen Einblick in das Tun und Handeln der jeweiligen Gruppen und Fanszenen haben. Von diesen Personen werden dann gerne reißerische Meldungen, Vermutungen und Verdächtigungen geäußert, welche der Bewegung nur schaden. Hiermit muss Schluss sein, die deutsche Ultrabewegung muss sich klar und deutlich von solchen Plattformen distanzieren und ggf. einen Gegenpol darstellen.

Leider hat sich in einigen, ich sage bewusst in einigen, Kurven und Gruppen ein Trend entwickelt der sich immer weiter von dem entfernt, wovon wir in der Entstehungsphase von Ultra in Deutschland immer geträumt haben. Eine lautstarke, kreative und leidenschaftliche Kurve, die ihrem Verein bis ans Ende der Welt folgt. Jugendliche die davon träumen eine Schwenkfahne zu besitzen oder die sich nichts besseres vorstellen können, als nach dem Siegtor ein Bengalo in den Abendhimmel zu strecken. Gänsehaut nach einem Schlachtruf aus tausenden Kehlen und die euphorische Vorfreude darauf, die eigene Zaunfahne in weit entfernte Länder tragen zu können. Das sind Ideale von denen die Leute, die Ultra in Deutschland vorangebracht haben, geträumt haben und das sind Ideale an die wir uns wieder mehr besinnen sollten!

Über das Thema Gewalt gibt es, wie auch über viele andere Themen, verschieden Meinungen. Für einige gehört sie zum Fussball dazu. Für sie wird die Gewalt immer ein Faktor in den Fanszenen sein, genauso wie Gewalt immer ein Faktor in unserer Gesellschaft sein wird. Andere dagegen lehnen Gewalt ab, im Fussball, wie auch im sonstigen Leben. Es wird also Zeit dass wir, in unseren Gruppen, aber vor allem auch mit den Fanszenen anderer Vereine über dieses heikle Thema diskutieren, das haben wir in den letzten Jahren fahrlässig verpasst! Die Diskussion muss erst in Gang kommen, doch auch jetzt schon ist klar: Wir müssen aufpassen, dass Gewalt nicht das Mittel zum Zweck wird und in unserer Bewegung immer weiter in den Vordergrund gerückt wird. Sonst müssen wir uns nicht wundern, dass unsere Fankultur weiterhin von allen Seiten bedroht wird. Schaut euch die Entwicklung in Italien an und ihr werdet sehen, dass dort auch viele Fehler innerhalb der Szenen dazu geführt haben, dass man heute kaum noch eine Freiheit im Stadion genießen kann. Lasst uns nicht die gleichen Fehler wiederholen!

Ich hoffe dass die heutige Demo ein erster Schritt in die richtige Richtung ist und dass der Dialog unter den Führungsleuten der Kurven auch in Zukunft aufrecht erhalten wird. Nur gemeinsam können wir etwas erreichen und nur wenn alle Szenen gemeinsam ein Ziel verfolgen ist es auch möglich dieses Ziel zu erreichen. Und bedenkt dabei immer, ein Kompromiss ist nicht gleichbedeutend mit einer Niederlage! Als bestes Beispiel kann man da sicherlich die bekannte Initiative "Pyrotechnik ist kein Verbrechen" aus Österreich nennen.

Die ersten Schritte muss nun jede Szene für sich selbst machen, ihr seid dazu aufgefordert in euren Gruppen eine kritische und selbstreflektierende Diskussion zu starten. Ihr müsst dafür sorgen, dass euer Nachwuchs in der Kurve etwas vorgelebt bekommt an dem er sich orientieren kann. Ihr müsst Werte schaffen um am Ende auch gemeinsam Werte leben zu können, denn wie sagt man so schön:

Man erntet was man sät!

Faszination Fankurve dokumentiert die Redebeiträge der Schickeria München:

„Am 29. Januar 1995 stirbt Vincenzo Spagnolo, Ultrà von Genoa durch eine Messerattacke eines Mitglieds einer Splittergruppe Mailänder Ultras.

Bereits seit Beginn der 80iger Jahre war es in Italien zu einigen Todesfällen rund um Auseinandersetzungen der Ultras gekommen, da zu diesem Zeitpunkt ein Mitglieder-Boom und damit ein Generationswechsel innerhalb der Ultras einsetzte. Die alten Gruppen verloren an Einfluss, viele Splittergruppen wenden sich von den alteingesessenen Gruppen ab und damit veränderten sich auch die Werte der Ultras.

Der Tod von Vincenzo Spagnolo und dessen Umstände führen dazu, dass sich die Ultras erstmals treffen und über ihren Umgang mit Gewalt reden. Heraus kommt die Resolution BASTA LAME, BASTA INFAMI – Schluss mit den Messern, Schluss mit der Schande!

Das Scheitern dieser Initiative, die der Versuch war die Selbstregulierung innerhalb der Kurven zu retten, stellt für viele den Anfang des Endes der Ultras in Italien dar.

Roberto Massucci, Sekretär des Osservatorio Nazionale sulle Manifestazioni Sportive, der staatlichen Stelle die unter anderem darüber entscheidet, welche Spiele der italienischen Ligen zu Sicherheitsspielen ohne Gästefans erklärt werden, äußerte sich Anfang des Jahres in einem Interview für den Ballesterer dahingehend, dass sie, der Staat, die Logik der Ultras brechen wollen. Gezielt werden definierende Elemente der Ultra-Kultur wie Trommeln oder Fahnen verboten. Dabei ist es absurd einen Zusammenhang dieser Elemente mit Gewalt herzustellen.

Dass angesichts all dieser unfassbaren und unrechtmäßigen Maßnahmen und Äußerungen kein Aufschrei durch die italienische Öffentlichkeit geht, ist Anzeichen dafür, dass die Ultras ihren Stellenwert in der Gesellschaft verspielt haben. Einen Stellenwert den sie definitiv einmal hatten.

Italien ist das Mutterland der Ultras, wir schauen immer wieder nach Italien und trotz aller recht großen qualitativen Unterschiede stellt sich die Frage, ob sich bei uns zeitversetzt eine ähnliche Entwicklung vollzieht oder ob sich die Zustände nicht übertragen lassen. Können wir aus der Situation in Italien lernen?

Viele Gruppen bekunden in letzter Zeit öffentlichkeitswirksam, dass aus ihrer Sicht die Notwendigkeit besteht, das eigene Handeln zu reflektieren. Für uns stellt sich die Frage, ob die für diesen Schritt nötige Reife und auch wirklich einen Konsens darüber in den Szenen besteht.

Zu einer funktionierenden Selbstregulierung gehört nicht nur die Freiheit, die wir immer wieder einfordern, sondern auch dass die selbst auferlegten Regeln durchgesetzt werden.

Die Frage, die sich uns weiter stellt, ist, ob das was bei so einem Diskurs herauskommen könnte, eine Gratwanderung zwischen dem Maß an Rivalität, was für unser Selbstverständnis notwendig ist und der Einsicht, dass Gewalt für Ultras kein Selbstzweck ist, sich in der Öffentlichkeit überhaupt verkaufen ließe.

Dabei liegt es eigentlich auf der Hand, einem totalen Gewaltverzicht der Ultras steht nicht nur unsere Logik im Weg, sondern auch eine Notwendigkeit. Gewalt ist kein Phänomen der Ultras, Gewalt hat es beim Fußball schon immer gegeben und es wird sie auch ohne Ultras weiter geben. Wir Ultras aber könnten, sofern sowohl bei uns als auch bei denjenigen, die die Spielregeln in den Stadien festlegen der Wille zu einem ehrlichen Dialog besteht, diese Gewalt durch Kodizes und Regeln in Bahnen lenken, wir können aus einem Eigeninteresse heraus ihre Intensität, ihre Häufigkeit und den Stellenwert, den sie für die Jugendlichen in den Kurven hat, beschränken und wir könnten einen Großteil der Frustration, der Aggression, aber auch der Energie und der Emotionen in Choreographien, Tifo und Kurvenshows ablenken. Dafür brauchen wir Freiheit und die Kraft dies umzusetzen. Haben aber die Entscheidungsträger auf der anderen Seite so viel Mut? Haben wir den Willen und die Kraft dies umzusetzen?

Ich möchte nochmal einen Schritt zurück gehen und auf die Situation der Ultras in Deutschland eingehen. Zu einem Zeitpunkt, als viele Gruppen um 2000 rum noch in den Kinderschuhen steckten und die Situation in den Stadien ungewöhnlich friedlich aber auch langweilig und tot war, zu diesem Zeitpunkt als faktisch so gut wie keine Gewalt stattgefunden hat, wurden die entstehenden Ultras-Gruppen bereits mit unangemessener Repression der Polizei,der Vereine und der Verbände konfrontiert. Dies radikalisierte die Szene und prägt uns bis heute. Als ein einschneidendes Erlebnis für viele von uns stellt sich der Umgang mit Pyrotechnik dar. Zu diesem Zeitpunkt war Pyro in den Stadien weit verbreitet und Ausdruck von Leidenschaft und Emotionen. Die Kriminalisierung und Stigmatisierung von Pyrotechnik setzte gerade erst ein. Damals machten wir Ultras den Fehler, dass wir einen Kuhhandel eingingen und für vermeintliche Freiheiten und zugunsten eines angeblichen Dialogs auf dieses im großen und ganzen ungefährliches Stilmittel der Fankultur weitestgehend verzichteten, ja sogar Einfluss auf unser Umfeld dahingehend ausübten. Wir zeigten schon in diesem frühen Stadium, dass wir fähig sind Vereinbarungen einzuhalten und umzusetzen und dass wir verlässliche Gesprächspartner sind, deren Wort zählt. Als genau das stellte sich die Gegenseite nicht raus, uns wurde ins Gesicht gespuckt und unsere ausgestreckte Hand blieb unbeantwortet. Im Gegenteil, der Verzicht auf Pyro gilt heute als Selbstverständlichkeit, die Spirale der Repression drehte sich immer schneller. Statt Pyro müssen wir heute Fahnen schmuggeln. Die andere Seite hat eine Situation geschaffen, in der alles verboten und alles reglementiert ist und die Gewalt für viele das letzte Ausdrucksmittel bleibt. Durch ihre Stadionverbote werden unzählige junge Fans und Ultras sehr oft unbegründet und willkürlich aus den Stadien ausgesperrt und einer Situation ausgesetzt, in der schon im Vorfeld, gleichermaßen durch das Zutun von Fans und Polizei, ein Klima der Aggression herrscht.

Eigentlich bedarf es zwei Schritte der Gegenseite, bevor wir einen Schritt in ihre Richtung machen. Lasst uns trotzdem unseren Schritt unabhängig von den anderen machen, denn er liegt in unserem Interesse. Der Blick nach Italien zeigt, wie grau, trist und trostlos die Welt der „offiziellen Fans“ ohne die Ultras ist. Wir wollen aber eine Welt der Ultras, wie sie in Italien einmal war, mit bunten, kreativen und lauten Kurven. Egal ob es möglich ist dahin zu kommen, das Ziel ist es auf jeden Fall Wert den Weg dorthin mit einem ersten Schritt zu beginnen.

Ich möchte meine Rede mit einer Verbeugung vor der großen Geschichte der italienischen Ultras beenden und mit Trauer und Wehmut auf ihre derzeitige Situation blicken.

ULTRAS WIRD ES IMMER GEBEN!

Darüber, wie das Gesicht der Ultras hier bei uns in der Zukunft ausschauen wird, können wir, die Ultras selber und die Entscheidungsträger gleichermaßen entscheiden!“



Schickeria München

Weitere Videos von Redebeiträgen der Fandemo 2010:



Fanfotos Fandemo 2010




Weitere News:
08.10.2011: Erhalt der Fankultur wiederbelebt
14.10.2010: Videos der Fandemo in Berlin
13.10.2010: Video des Tages: Zum Erhalt der Fankultur
13.10.2010: Alle Bilder der Fandemo „Zum Erhalt der Fankultur“ online
11.10.2010: Fandemo in Berlin ein voller Erfolg: 10.000 auf der Straße

Alle 9 News anzeigen