07.10.2014 - River Plate / Boca Juniors

Spielbericht: ​Superclássico zwischen River und Boca


Vorgestern kam es zum Spiel der Spiele. River Plate empfing die Boca Juniors im Estadio Monumental. Der Groundhopper Tobias Plieninger war vor Ort und berichtet für Faszination Fankurve von dem Randgeschehen der Partie. Plieninger gibt in einigen Exkursen einen Einblick in die Fankultur in Argentiniens.

Seit drei Wochen bin ich nun zum Fußballschauen in Buenos Aires und seit ungefähr zwei Wochen berichten alle Zeitungen und Sender über fast nichts anderes wie DAS Spiel der Spiele: River gegen Boca. Sogar im Wetterbericht wurde eine Prognose für die mythische Spielbegegnung erwähnt. Ein paar Wolken wurden gemeldet. Aber dass es sintflutartig regnet wurde vielleicht absichtlich verschwiegen?
Schon ordentlich durchnässt kam ich in die Nähe des Stadions. Doch es war kaum etwas los am Bahnhof. Riesenschock! Ich dachte schon das Spiel sei abgesagt. Dreißig Minuten vor Anpfiff reingehen ist bei diesem Spiel eindeutig zu spät und offensichtlich nicht üblich. Doch das gehörte zu meiner Taktik, denn ich hatte keine Eintrittskarte.
Die gibt es zu utopischen Preisen über diverse Agenturen zu buchen. Gerüchten zu Folge haben die Barras dieses Geschäft fest in der Hand. Was gibt es sonst noch für Möglichkeiten? Einfach kreativ werden?! Habe ich es jetzt das Business der Barra unterstützt? Oder bin ich ein dreckiger Betrüger? Vielleicht meinte es der Fußballgott einfach nur gut mit mir? Sucht es euch aus! Jedenfalls war ich pitschnass drin in der Schüssel in der auch das WM Finale 1978 stattfand. Nach den ganzen Qualen, die er mir letzte Saison angetan hat mit dem VfB Stuttgart und dann auch noch die finsteren Umstände, rote Brause und sonstige Ärgerlichkeiten, da war ich in dem Moment, als ich drin war im „Monumental“, fast schon versöhnt mit ihm. Erstens wegen meinem Glück und zweitens, weil in diesem genialen Stadion irgendwie die Zeit stehen geblieben zu sein scheint.
Bevor ich auf das Spiel konkret eingehe will ich noch ein paar Hintergrundinfos geben. Das sind jetzt nicht die üblichen, die ihr auf Wikipedia oder sonst wo nachlesen könnt. Ich will mal aus meiner Perspektive den wichtigsten Punkt der Fankultur darstellen.

Motor der Kurve
Ich hoffe, dass dies jetzt nicht zu klugscheißerisch daher kommt. Aber ich will mal versuchen mit einem meiner Meinung nach vorhandenen Irrtum bei vielen Ultras in Deutschland eine neue Perspektive zu entwickeln. Ein Grundmissverständnis von vielen Ultras im Lande, eine "Argentinien Illusion", ist glaube ich, dass vielen denken in Argentinien würden alle die ganze Zeit frei drehen. Ich selbst war auch in dem Irrglauben. Daher oder weshalb auch immer gehen viele davon aus, dass sie denken ein guter Support wäre, wenn die ganze Kurve richtig am Rad dreht. Doch das ist auch in Argentinien nur ganz ganz selten der Fall bei richtig guten Spielen. Die Stimmung dort schwankt viel mehr mit dem Spielverlauf. Kurz bevor ich nach Argentinien geflogen bin habe ich im Newsletter einer bekannten deutschen Gruppe gelesen. Da stand, dass der Support nicht gut gewesen sei, weil eben aufgrund des schlechten Spiels die Luft raus ist. Glauben die nun in Argentinien wäre dies besser? Nein, das ist es nicht. Motor der Kurve zu sein heißt in Argentinien nicht zwangsläufig, dass das Stadion 90 Minuten kocht. Es bedeutet einfach, dass der Motor (Der Supportkern der Barra bei den riesigen und kleineren Trommeln und den Trompeten und Posaunen) einfach kontinuierlich läuft und abgeht.
Natürlich hängt das von verschiedenen Faktoren ab wie dann das ganze Stadion mit einsteigt. Es kann auch mal sein, dass die einfach ihr Programm abspielen und nichts geht. Manchmal geht das auch nur nach Spielsituationen kurz rund und flacht dann schnell wieder ab oder wenn ein beliebtes Lied gesungen wird. Hier ist denke ich auch anzumerken, dass jede Kurve über ein paar Klassiker verfügt, die landauf und landab, teilweise sogar mit nahezu gleichen Texten, gesungen werden.
Es kann aber auch mal sein, dass alle total heiß sind, besonders natürlich bei (Super)Clássicos. Der größte Unterschied ist jedoch mit welcher Leidenschaft die Barra wirklich kontinuierlich singt. Mit eben dieser steigen dann sogar die Zuschauer auf der Haupttribüne und die „normalen Fans“ mit ein. Auch ältere Menschen sind da keine Ausnahme. Das finde ich klasse. Alles hat was für sich. Auch so eine Zyleta wie in Warszawa, die auch bei den übelsten Grottenkicks voll abgeht. Aber selbst da wird es erst richtig genial bei einem guten Spiel, wenn der Rest im Stadion mit macht. Das ganze läuft natürlich in Argentinien ohne Mikrofonanlage ab, was ich auch wieder bewundernswert finde. Insgesamt ist die Stimmung nach meinem Empfinden ehrlicher und emotionaler und das ohne Gästefans.

Ein weiter Punkt ist dann die Gewalt
Beinahe hätte ich doch die Panikmache vergessen von wegen die Barras hätten den Fußball im Griff. Ja das haben sie! Ja und es wird scharf geschossen, wenn es nach deren Ansicht sein muss. Das wissen auch alle in Argentinien. Wo bleibt die moralische Anklage? Business kills Ultra, oder Business kills Football, oder kills was auch immer, oder kein ehrenhafter Kampf? Diego Maradona hat einmal gesagt: „La pelota no se macha“ Wörtlich bedeutet das, der Ball wird nicht schmutzig. Doch gemeint ist damit vielleicht auch, dass es wohl unterschiedliche Vorstellungen zu Fußball gibt die nebeneinander Platz finden können ohne, dass der Ball schmutzig wird. Da hat er sich was dabei gedacht. Das Zitat unterstütze ich voll und ganz. Es ist einfach ein Fakt, der nicht geändert werden kann. Die Moral können wir uns sparen bei den Verhältnissen. Zur Barra gehören ist eben ähnlich wie bei der Stadtguerilla zu sein. Doch im Gegensatz zu Jacques Debrays Klassiker aus den 68er Zeiten über die Stadtguerilla „Revolution in der Revolution“ müssen sie nicht gegen sich selbst kämpfen. Denn wer in die Barra kommt war vielleicht nie Teil der Zivilisation, dem lauwarmen Brutkasten, der kindisch macht und verbürgert. (Nach der Beschreibung von Debray). Natürlich ist es doof den Kopf hinzuhalten, dass sie die Mauro Martins dieser Welt ein schönes Leben machen können, wenn sie nicht gerade im Knast sitzen. Doch was gibt es für Alternativen? Sieht schwer aus. Natürlich auch nicht von der Polizei oder sonstigen Institutionen. So law and Order Freunde wie Wendt, von wegen „jetzt räumen wir richtig auf-Kampf gegen die Barra - sero tolerancia“, tauchen nicht mal in Wahlkampfzeiten auf. Es gab mal kurz irgendwie was in die Richtung. Aber das ist Gerüchten zu Folge auf eine spezielle Art und Weise gelöst worden. Bei dem Law and Order Freund fand sich in seiner, von ihm geheim geglaubten, Adresse ein Drohschreiben. Also heißt es: Leben und leben lassen in doppelter Hinsicht. Stellt euch das vor. Die Welt geht auch davon nicht unter. Das Fußballvergnügen geht weiter! An dieser Stelle natürlich R.I.P für alle Todesopfer. Die Liste ist um alle Opfer viel zu lang. Offensichtlich verträgt die Gesellschaft viel mehr Gewalt als in Italien oder Deutschland.
Im Juni 2013 war dann auch in Argentinien wieder die Dosis der Verträglichkeit übertroffen. Doch wer war schuld? Wie in Italien waren nicht die Fans der konkrete Auslöser für die Überdosis. Es wurde nach einem tödlichen Schuss mit einem Gummigeschoss eines Polizisten auf einen Fan von Lanus ein bis heute gültiges Gästeverbot ausgesprochen. Der 38 jährige Santiago Perze (R.I.P.) war laut unterschiedlichen Berichten Mitglied der Barra „la 14“. Ein paar Wochen später kam es laut Berichten zu einem internen Kampf bei „la 12“ der Barra von Boca mit mehreren Toten und Verletzten. Davor galt schon seit einigen Jahren ein Verbot ab Liga 1. Als River 2011 abstieg gab es Ausnahmen. Aber die bestätigen sonst leider nicht die Regel. Mein Eindruck ist, dass ein paar Gänge zurückgeschaltet wurde, was die Riots anbelangt. Hoffentlich werden irgendwann wieder Gäste zugelassen! Aber Fußball ist kein Wunschkonzert. Es scheint schon fast, dass die Barras handzahm sind. Doch dieser Eindruck ist natürlich ein Trugschluss. Noch läuft alles wie gehabt. Die täglich erscheinende Fußballzeitung Olé berichtet ab und zu mal was Kritisches. Vieles läuft abseits der Öffentlichkeit. Zum Gästeverbot wurde mal angemerkt, dass es doch ziemlich seltsam sei, wenn Gäste verboten sind, die dafür verantwortlichen Chefs der Barras aber VIP auswärts sich das Spiel anschauen. Ist eben alles etwas verrückter und lockerer hier.
Gestern Abend habe ich im Spaß gedacht, dass es doch eine Möglichkeit gibt wie Gäste doch kommen könnten. Ohne Gästefans fehlt das Salz in der Suppe. Ein verplanter Minister wie seinerzeit Günter Schabowski liest einfach was von einem zerknitterten Zettel ab, schaut komisch über seine schiefe Brille und sagt. „Die Reisebeschränkungen sind aufgehoben. Das gilt nach meiner Kenntnis sofort, unverzüglich“ Wie gesagt: Wünschen geht nicht, leider.

Das Spiel
Also starten wir mal mit dem Spiel an sich. Da der Rasen wie Zuschauermassen (ca. 65.000) und Spieler total durchnässt war rollte der Ball kaum. Einige Ausrutscher waren lustig anzusehen, doch ein richtiges Spiel kam nicht auf. Wer das ganze Spiel sehen will kann das hier tun. Sky und sonstige Pay-TV Sender gibt es nicht mehr. Es gibt Fußball für alle.
Trotz der Bedingungen war Vorsicht Fehlanzeige. Es ging voll zur Sache. Es gab zwei rote Karten eine für Boca (41. Minute) und eine für River (84. Minute) und einen Elfmeter. Das Ergebnis war 1-1. Wen es interessiert wird sicherlich was finden mit mehr Details. Bemerkenswert fand ich wie bei fast jeder kritischen Entscheidung der Schiedsrichter von einer Traube an Spielern umgeben wurde. Doch die bei uns so kritisierte Rudelbildung machte den Unparteiischen nicht nervös. Er blieb einfach stehen, schaute streng und gestikulierte wie seinerzeit Colina.

Optische Leckerbissen
Eine richtige Aktion gab es erst zur zweiten Halbzeit. Ob das aufgrund des heftigen Regens verschoben wurde oder andere Gründe vorlagen? Es waren Plastikbahnen und viele Luftballons und Papierschnitzel. Ein typisches „Chaos-Intro“ wie hierzulande wohl gesagt würde. Dazu noch die üblichen Schirme, die an diesem Tag zahlreich vorhanden waren. Ob das nun am Regen oder am besonderen Anlass lag? Dann noch die Stoffbänder. Die großen mit Gruppennamen waagrecht und die anderen senkrecht. Ob das ausschließlich ein optisches Element ist? Das will ich mal in Frage stellen, mehr dazu unten. Dann gab es etwas Rauch und Bengalos, aber nicht so heftig. Was mir auch sehr gefallen hat die Zaunfahnen. Die „Filiales“, das sind organisierte Fanclubs. Sie haben welche mit Ortsnamen. Die sind im ganzen Stadion zahlreich präsent. Dann gibt es auch noch kleine Fahnen mit den Malvinen-Insel drauf. Das ist eine Inselgruppe wegen der es schon einen Krieg gegen Großbritannien gab. Das nun auszuführen würde zu lange dauern. Dann gibt es Fahnen mit Gesichtern von verstorbenen oder im Knast sitzenden Fans. Lustig finde ich so kleine Fahnen mit Heavymetal Symbolen. Als Highlight gibt es dann noch die riesige Fahne der „Borrachos de Tablon“ (Säufer von der Theke) der Barra von River. Die ist von den Maßen ähnlich wie die große Fahne der Bad Blue Boys von Dinamo Zagreb als sie in besseren Zeiten noch hing.

Die Stimmung
Aus diesem Grund sind meine Eingangsworte aufgeführt. Das erklärt weshalb die Stimmung heute dem Spiel entsprechend schlecht war. Als dann auch noch das 0-1 für Boca fiel, da war kurz Totenstille. Absolut erschreckend der Moment. Wenn ich das Spiel nicht gesehen hätte, dann wäre mir gar nicht aufgefallen, dass ein Tor gefallen ist. Auch irgendwie besonders so ein Spiel ohne Gästefans. Einmalig diese eiskalte Stille. Doch dann ging es wieder los bei der Barra. Zu den Bändern wollte ich noch sagen, dass die nicht nur optisch, sondern auf für die Stimmung genutzt werden. Denn da krallen sich ganze Massen fest und bewegen sich dann. Richtig lustig wird es wenn zwei Bändergruppen aufeinander zu kommen und die Hinchas sich ineinander verkeilen. Jedenfalls bringt diese Art die Bänder zu nutzen viel Bewegung und Dynamik in den Support. Bei dem Elfmeter kurz vor Halbzeit rasteten plötzlich alle aus. Doch als der verschossen wurde war dann Ruhe. Nach der Halbzeit war ab und zu mal los. Dann jedoch bei dem 1-1 in der 78. Minute hatte ich das Gefühl ein Orkan fegt durch das Stadion. Ich habe noch nie einen so emotionalen Torjubel erlebt. Wildfremde Leute fielen sich erleichtert und glücklich in die Arme im ganzen Stadion. Ich konnte ihre Liebe zum Verein spüren. Fast wirkte ich etwas beschämt wie ich so da stand und ihre ehrliche Freude nicht teilen konnte. Ich glaube auch nicht, dass ich so stark mit meinem Verein verbunden bin, wie ich es dort erlebt habe. Nach Schlusspfiff gingen alle schnell raus. Jetzt besteht vielleicht der Gedanke, dass River-Fans nicht viel können, wenn die Stimmung insgesamt eher lau war. Da irrt ihr! River kann was! Das habe ich vor zwei Wochen erlebt, als sie 4-1 gegen Independiente gewonnen haben. Da war fast 90 Minuten richtig was los.

Fazit
Als ich mit dem Bus weiter fuhr sangen drei junge Mädchen, geschätzt circa 16 Jahre alt, ganz begeistert alle Lieder. Unglaublich mit welcher Leidenschaft und wie textsicher die trällerten! Das habe ich auch noch nie gesehen und gehört. Dann haben andere Fahrgäste die spöttisch gefragt: „Ihr wisst schon dass wir heute 1-1 gespielt haben“ Die Mädchen haben geantwortet „Besser als verloren! Wir waren heute zum ersten mal beim Superclássico und wollen feiern“
Ich werde jetzt sicherlich nicht schreiben „die Stimmung oder das ganze Spiel oder alles war schlecht und ich hätte mehr erwartet“. Ins Wasser gefallen, das gilt für mich nach dem Tag zum Glück nur was das Wetter betrifft. Das einzige was ich erhofft hatte, war dass ich rein komme. Diesen Wunsch hat mir der (Fußball)gott erfüllt und dafür bin ich ihm dankbar wie die Mädchen vom Bus. (Faszination Fankurve, 06.10.2014)






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