01.06.2015 - Hamburger SV

Warum sich die Chosen Few auflöste: Ein Kommentar


Die 1999 gegründete Hamburger Ultràgruppe Chosen Few gab gestern ihre Auflösung bekannt. Einen Tag vor dem möglichen ersten Bundesligaabstieg des Hamburger SV ist die CFHH Geschichte. Doch warum gab es für die Gruppe keine Möglichkeit weiter zu existieren?

Um diese Frage zu beantworten muss man darauf achten, was die Gruppe in ihrer Geschichte ausgemacht hat, um letztlich festzustellen, dass der Gruppe langfristig gar keine Alternative übrig blieb.

Vor einem Jahr zog sich die Chosen Few aus dem Stadion zurück, nachdem die Profimannschaft des Hamburger SV in eine Aktiengesellschaft ausgegliedert wurde (Faszination Fankurve berichtete) und anschließend Anteile an den Investor Klaus-Michael Kühne veräußert wurden. Das Ende der Chosen Few war in diesem Moment wohl schon besiegelt.

Für die Chosen Few war das Thema Ausgliederung wesentlich bedeutender als für viele andere Ultrágruppen anderer Vereine in Deutschland, die ihre Profiteams in den Vorjahren ebenfalls ausgliederten. Zwar gab es auch bei vielen anderen Vereinen Proteste gegen Ausgliederungspläne, doch keine andere Gruppe war durch solche Pläne derart in ihrer Existenz bedroht, wie die Chosen Few.

Seit 1999 zeichnete sich die Gruppe durch ein hohes ehrenamtliches Engagement im Verein aus. Bei keinem anderen Bundesligaverein waren die Ultras so stark in das Vereinsleben integriert, wie beim Hamburger SV. Die Chosen Few leistete tausende Stunden an ehrenamtlicher Arbeit für den Hamburger SV und den Supporters Club und prägte ihren Verein dadurch mit.


Bundesweit entwickelten sich ab der Jahrtausendwende verschiedene Ultràgruppen immer weiter. Teilweise in unterschiedliche Richtungen, teilweise gab es immer mal wieder Trends, die Einfluss auf viele Gruppen hatten. Die Chosen Few folgte diesen Trends nicht immer blind und setzte eigene Schwerpunkte, die letztlich das Besondere dieser Gruppe ausmachten. Getreu dem Motto der Gruppe „ALL GIVE SOME – SOME GIVE ALL“ gaben die Mitglieder der Chosen Few nicht nur alles für die eigene Gruppe, sondern auch alles für ihren Verein. Bei anderen Gruppen in der Bundesliga wurde „Alles für den Verein geben“ häufig als Floskel benutzt, bei der Chosen Few wurde es gelebt.

Dieser Hamburger Sonderweg rührte sicherlich noch aus den Anfangsjahren. Um die Jahrtausendwende tat sich die Chosen Few mit dem Namen Ultras noch schwer, weil sich die Hooligans der Generation vor ihnen bereits Ultras nannten. Die ersten Ultras in Deutschland waren nämlich gar keine Ultras, sondern Hooligans, die den Namen Ultras in Italien entdeckten, aber wie übliche deutsche Hooligansgruppierungen funktionierten. Die Chosen Few wählte einen anderen Weg und wollte zunächst vor allem durch optische Aktionen wie Choreografien und die Verbesserung der Stimmung auf sich aufmerksam machen. Der Name „Ultras“ war in Hamburg zur damaligen Zeit verrufen. Die Chosen Few zeigte den übrigen HSV-Fans durch Vereinsengagement, um was es ihnen wirklich ging und räumte somit die Bedenken anderer HSV-Fans aus.

Aber nicht nur im eigenen Verein brachten sich die „Wenigen Auserwählten“ ein. Ob Aktivitäten bei bundesweiten Fanzusammenschlüssen, wie zum Beispiel ProFans/Pro15:30 oder 12Doppelpunkt12, die Chosen Few war von Anfang an vorne mit dabei und kämpfte neben dem Engagement im eigenen Verein auch bundesweit gegen die Auswirkungen der Kommerzialisierung im modernen Fußball.

Ebenjene Kommerzialisierung brachte die Chosen Few nun zu Fall. Vielleicht war der Kampf der Gruppe bereits 2009 verloren, als Mitglieder des Supporters Club und der Chosen Few nicht in den Aufsichtsrat des Hamburger SV gewählt wurden, weil moderne Fußballvereine durch Mitgliederkampagnen immer mehr Mitglieder bekamen, die sich ihre Meinung nur aus den lokale Zeitungen bilden. In Hamburg schien es 2009 Verein und Medien nicht zu schmecken, dass Fanvertreter im Verein zu viel Macht erhalten könnten. Die zahlreichen Mitglieder schlossen sich schließlich dieser Stimmung letztlich in der Mehrheit an. Dieser Trend setzte sich fort. Eine spätere Mitgliederversammlung stimmte den Ausgliederungsplänen zu. Die Chosen Few kritisierte damals die Stimmung in den Medien und auf der Versammlung selbst.

Eine ausgegliederte Profimannschaft und ein Investor ließ sich mit den Werten der Gründergeneration der Chosen Few nicht in Einklang bringen, weshalb vor einem Jahr der Rückzug von den Profis beschlossen wurde. Stattdessen wurden Spiele der dritten Mannschaft, also der ersten Mannschaft des Hamburger SV e.V. besucht. Einige Mitglieder und ehemalige Mitglieder der Chosen Few waren zudem an der Gründung des Fanvereins HFC Falke e.V. beteiligt und fanden hier eine neue Heimat.

Ein Fortbestehen und diesen Umständen schien wohl nicht möglich zu sein. Einzelne Mitglieder der Chosen Few besuchten weiterhin Spiele der Profimannschaft, gerade bei sportlich bedeutenden Spielen im Abstiegskampf und beim Relegationshinspiel gegen den Karlsruher SC dürfte es bei vielen Mitgliedern gekribbelt haben. Für andere ist es mittlerweile unvorstellbar geworden Spiele der HSV-Aktiengesellschaft zu besuchen. Generationsunterschiede werden hierbei sicherlich auch eine Rolle gespielt haben. Für die Gründergeneration, die 15 Jahre ehrenamtlich alles für den Verein gegeben hat, ist eine Identifizierung mit dem heutigen HSV sicherlich schwieriger, als für einen Jung-Ultrà, der den Hamburger SV aufgrund seines Alters erst wenige Jahre unterstützt.

Bedingungen, die allen Mitgliedern der Chosen Few eine Rückkehr ins Volksparkstadion ermöglichen würde, wird es wohl nie wieder geben. Dies haben die Mitglieder der Gruppe am Sonntag erkannt und deshalb einen Schlussstrich unter das Kapitel Chosen Few gezogen. Letztlich muss jeder Ultrà selbst für sich entscheiden, bis zu welchem Punkt er sich in der heutigen Zeit mit seinem „Verein“ und dem Geschäft Fußball noch identifizieren kann. Die Mitglieder der Chosen Few gehen als Freunde auseinander, bevor Konflikte über das Finden dieses Punktes langjährige Freundschaften belasten könnten.


Durch diesen Schritt hat die Gruppe Größe bewiesen. Vor vielen Jahren warfen Ultras des Stadtrivalen aus dem Stadtteil St. Pauli der Chosen Few in einer Choreografie mit einem Affen und einer Banane mangelnde Mentalität vor. Dieser These muss man heute widersprechen, wenn eine Ultràgruppe wegen der voranschreitenden Kommerzialisierung einen Schlussstrich unter ihre Geschichte zieht und sich dabei immer treu geblieben ist. Eine Auflösung wegen einer nicht mehr existierenden Zaunfahne, die die Chosen Few durch eine Pyroshow in Düsseldorf verlor, hätte nicht zur Geschichte dieser Gruppe gepasst, die nie einem Ultràmanifest hinterherlief. Die Auflösung, die nun letztlich mit der Ausgliederung der Profimannschaft seinen Anfang nahm, ist einfach nur konsequent, wenn man bedenkt, was die Gruppe in den 16 Jahren ihrer Geschichte ausmachte. Ehemalige Mitglieder der Gruppe können sich nun neuen Projekten widmen. Manche von ihnen werden wieder ins Stadion gehen und ihre Mannschaft unterstützen, welche auch immer dies sein wird. Gestern haben alle Mitglieder etwas aufgegeben, wenige sogar alles, was sie seit vielen Jahren prägte. (Faszination Fankurve, 01.06.2015)

Fanfotos Hamburger SV




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