16.04.2020 - Fanszenen Deutschland

„Geisterspiele sind keine Lösung!“


Die Bundesliga-Saison 2019/2020 soll im Mai 2020 trotz anhaltender Corona-Pandemie mit Geisterspielen fortgesetzt werden. Mit dem bundesweiten Fanszenen Deutschland-Zusammenschluss haben sich heute zahlreiche Fan- und Ultraszenen gegen eine Wiederaufnahme des Fußballs in der aktuellen Situation ausgesprochen.

Die DFL hatte eigentlich für den morigen Freitag eine Mitgliederversammlung geplant, auf der über die Fortsetzung des Spielbetriebs gesprochen werden sollte. Diese Versammlung wurde von der DFL nun auf den 23. April 2020 verschoben (Faszination Fankurve berichtete). Bei den gestrigen Beratungen der Ministerpräsidenten mit der Bundesregierung soll der Profisport hingegen kein Thema gewesen sein, dennoch dürfte die Fortführung der Bundesliga mit Geisterspielen bald auch auf der Agenda der Politik stehen.


Die Fanszenen Deutschland fordern, dass der Profifußball in der aktuellen Situation nicht wieder starten sollte, da der Fußball nicht systemrelevant sei. Innerhalb der unterzeichnenden Fanszenen hält man es für absurd, dass in Deutschland weiterhin ein Mangel CoVid-19-Tests bestehe, gleichzeitig Fußballprofis aber etwa 20.000 solcher Test bekommen sollen, damit die Bundesliga zumindest mit Geisterspielen zu Ende gespielt werden kann.

Einen Zeitpunkt, wann der Profifußball in Deutschland wieder starten könne, wollen die Fanszenen nicht nennen, fordern jedoch, dass sich die Fußballwelt nicht von der restlichen Gesellschaft entkoppelt. Auch ein Abbruch der Saison 2019/2020 darf in den Augen der Fanszenen kein Tabu mehr sein.

Weiter erklären die Fanszenen Deutschland, dass man an der aktuellen Krise gut die Fehlentwicklungen im Profifußball sehen könne. Obwohl im Fußballbusiness mit Millionenbeträgen hantiert wird, scheint es an Nachhaltigkeit zu fehlen, wenn der Spielbetrieb mal ausgesetzt wird. Die Fanszenen kritisieren die Abhängigkeiten der Vereine von den Fernsehgeldern, weshalb die Fans hier grundlegende Reformen fordern.


So sollten die Fernsehgelder in Deutschland laut der Stellungnahme gerechter verteilt und dadurch die Solidarität zwischen größeren und kleineren Vereinen gestärkt werden. Beim Fanszenen Deutschland-Zusammenschluss wird nicht nur an die Bundesliga-Vereine gedacht, sondern auch Solidarität mit den Dritt- und Regionalligisten gefordert, für die die TV-Einnahmen nicht eine solch große Bedeutung haben, wie für Bundesligisten. In den unteren Ligen herrscht noch eine höhere Abhängigkeit von den Zuschauereinnahmen, die bei Geisterspielen vor leeren Zuschauerrängen ausbleiben.

Im bundesweiten Fanszenen Deutschland-Zusammenschluss sind weite Teile der deutschen Ultraszene organisiert. Der Zusammenschluss entstand aus den „Krieg dem DFB“-Protesten, mit denen die Fans von Dynamo Dresden im Mai 2017 in Karlsruhe starteten. Ab Sommer 2017 kam es daraufhin zu Treffen, an den Vertreter vor allem von zahlreichen deutschen Ultragruppen teilnahmen. Aus diesem Fanszenen Deutschland-Zusammenschluss wurden in den vergangenen Jahren bereits zahlreiche Aktionsspieltage in den Stadien organisiert, die sich gegen fanunfreundliche Anstoßzeiten, gegen die Abschaffung der 50+1-Regel, gegen das Strafensystem des DFB, gegen Korruption, gegen die deutsche Bewerbung um die Europameisterschaft 2024 oder wie zuletzt gegen Kollektivstrafen des DFB und Dietmar Hopp richteten. (Faszination Fankurve, 16.04.2020)


Faszination Fankurve dokumentiert die Stellungnahme der Fanszenen Deutschland:

+++ Quarantäne für den Fußball – Geisterspiele sind keine Lösung! +++

Die Frage, wann und in welcher Form wieder Profifußball gespielt werden darf, wurde in den vergangenen Tagen und Wochen viel diskutiert. In der nach wie vor teils unübersichtlichen gesellschaftlichen Situation wurden von verschiedenen Akteuren eine Vielzahl ethischer, epidemiologischer und anderer Argumente ins Feld geführt.

Im Folgenden möchten wir uns, als bundesweiter Zusammenschluss der Fanszenen und mit Blick auf die DFL-Vollversammlung, zu dem Thema äußern:

Die Wiederaufnahme des Fußballs, auch in Form von Geisterspielen, ist in der aktuellen Situation nicht vertretbar – schon gar nicht unter dem Deckmantel der gesellschaftlichen Verantwortung. Eine baldige Fortsetzung der Saison wäre blanker Hohn gegenüber dem Rest der Gesellschaft und insbesondere all denjenigen, die sich in der Corona-Krise wirklich gesellschaftsdienlich engagieren. Der Profifußball ist längst krank genug und gehört weiterhin in Quarantäne.

Wir vertreten die klare Position, dass es keine Lex Bundesliga geben darf. Fußball hat in Deutschland eine herausgehobene Bedeutung, systemrelevant ist er jedoch ganz sicher nicht. Beschränkungen, die für vergleichbare Bereiche der Sport- und Unterhaltungsindustrie gelten, müssen auch im Fußball Anwendung finden. In einer Zeit, in der wir alle sehr massive Einschränkungen unserer Grundrechte im Sinne des Gemeinwohls hinnehmen, ist an einen Spielbetrieb der Bundesligen nicht zu denken. Wenn seit Wochen über einen Mangel an Kapazitäten bei CoVid-19-Tests berichtet wird, ist die Idee, Fußballspieler in einer extrem hohen Taktung auf das Virus zu untersuchen, schlicht absurd. Ganz zu schweigen von der Praxis eines Fußballspiels mit Zweikämpfen, eines normalen Trainingsbetriebes in Zeiten von Versammlungsverboten und eines gemeinsamen Verfolgens potenzieller Geisterspiele durch Fans.

Die Rede von gesellschaftlicher Verantwortung und Pläne für exklusive Testkontingente (über 20.000 Stück) für den Profifußball passen nicht zusammen. Wir verstehen, dass Vereinsfunktionäre durchaus rechtliche Verpflichtungen haben, im Sinne des finanziellen Wohls ihres Vereins zu handeln. In einer Situation jedoch, in der die gesamte Gesellschaft und Wirtschaft vor enormen Herausforderungen stehen, ist es für uns nicht nachvollziehbar, dass offenbar sämtliche Bedenken hintenangestellt werden, wenn es darum geht, den Spielbetrieb möglichst lange aufrechtzuerhalten, bzw. erneut zu starten.

Ganz offensichtlich hat der Profifußball viel tieferliegende Probleme. Ein System, in das in den letzten Jahren Geldsummen jenseits der Vorstellungskraft vieler Menschen geflossen sind, steht innerhalb eines Monats vor dem Kollaps. Der Erhalt der Strukturen ist vollkommen vom Fluss der Fernsehgelder abhängig, die Vereine existieren nur noch in totaler Abhängigkeit von den Rechteinhabern.

Die Frage, weshalb es trotz aller Millionen keinerlei Nachhaltigkeit im Profifußball zu geben scheint, wie die Strukturen und Vereine in Zukunft robuster und krisensicherer gemacht werden können, wurde zumindest öffentlich noch von keinem Funktionär gestellt. Das einzig kommunizierte Ziel ist ein möglichst schnelles ,,Weiter so!‘‘, das jedoch lediglich einer überschaubaren Zahl an Beteiligten weiterhin überragende Einkünfte garantiert. Das Gerede von zigtausenden Jobs halten wir schlicht in den meisten Fällen für einen Vorwand, weiterhin exorbitante Millioneneinkünfte für wenige extreme Profiteure zu sichern. Dies zeigt sich auch in der absoluten Untätigkeit des DFB, im Hinblick auf den Fußball unterhalb der 2. Bundesliga. Dass Geisterspiele hier viel stärkere Folgen hätten, als in den Ligen der DFL, wird ausgeblendet. Hauptsache das „Premiumprodukt“ kann weiterexistieren. Hier wird der DFB seiner Rolle nicht nur nicht gerecht, er zeigt auch wiederholt, wessen Interessen er vertritt.

Seit Jahren fordern Fans Reformen für eine gerechtere Verteilung der TV-Einnahmen und kritisieren die mangelnde Solidarität zwischen großen und kleinen Vereinen. Wir weisen auf Finanzexzesse, mangelnde Rücklagenbildung und die teils erpresserische Rolle von Spielerberatern hin. Die Gefahr der Abhängigkeit von einzelnen großen Geldgebern haben wir anhand von Beispielen wie 1860 München, Carl Zeiss Jena und anderen immer wieder aufgezeigt.

Spätestens jetzt ist es aller höchste Zeit, dass sich Fußballfunktionäre ernsthaft mit diesen Punkten auseinandersetzen. Die jetzige Herausforderung ist auch eine Chance: Die Verbände sollten diese Krise als solche begreifen und die Strukturen des modernen Fußballs grundlegend verändern. Es ist höchste Zeit!

In diesem Zusammenhang fordern wir:

-Der aktuelle Plan der DFL, den Spielbetrieb im Mai in Form von Geisterspielen wieder aufzunehmen, darf nicht umgesetzt werden. Wir maßen uns nicht an, zu entscheiden, ab wann der Ball wieder rollen darf. In einer Situation, in der sich der Fußball auf diese Weise so dermaßen vom Rest der Gesellschaft entkoppeln würde, darf es jedoch nicht passieren.

-Eine sachliche Auseinandersetzung mit der aktuellen Lage muss forciert und eine Abkehr vom blinden Retten der TV-Gelder vollzogen werden. Auch ein möglicher Abbruch der Saison darf kein Tabu sein, wenn die gesellschaftlichen Umstände es nicht anders zulassen. In diesem Fall sollten nicht nur Horrorszenarien in Form von drohenden Insolvenzen skizziert werden, sondern Lösungsmöglichkeiten in Form von Förderdarlehen, erweiterten Insolvenzfristen und anderen Kriseninstrumenten, denen sich auch die restliche Wirtschaft stellt, diskutiert werden.

-Eine kommende Lösung muss maximal solidarisch sein. Es darf unter den Vereinen keine Krisengewinner- und verlier geben. Die Schere zwischen ,,groß‘‘ und ,,klein‘‘ darf nicht noch weiter auseinandergehen. Ausdrücklich schließen wir damit auch die Vereine der dritten Liga und der Regionalligen mit ein, für die Geisterspiele ohnehin keine Option sind.

-Die Diskussion über grundlegende Reformen, um den Profifußball nachhaltiger und wirtschaftlich krisensicherer zu gestalten, muss jetzt beginnen. Sie darf nicht nur von Fans und Journalisten geführt werden, sondern ist die zentrale Aufgabe der Verantwortlichen der Clubs und Verbände. Strukturen und Vereine müssen auf einen finanziell und ideell sicheren Boden zurückgeholt werden. Dabei muss die 50+1-Regel weiterhin unberührt bleiben.

Die Phase einer von der restlichen Gesellschaft komplett entkoppelten Fußballwelt muss ein Ende haben!

Fanszenen Deutschlands im April 2020






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