16.04.2007 - Brasilien

Nur mit Steuernummer in die Kurve


Kürzlich hat die „Kommission für Frieden im Stadion“ ihren ersten Zwischenbericht vorgelegt. Er beinhaltet eine umfassende Erhebung von Sicherheitsmaßnahmen im europäischen Fußball und eine Analyse der aktuellen Situation in Brasilien.

Der brasilianische Ligafußball ist im Gegensatz zur Geschichte der Nationalmannschaft alles andere als ruhmreich. Die Umstände wurden so untragbar, dass die Regierung im Jahre 2003 intervenierte und mit dem Fanstatut ein Verbraucherschutzgesetz für Fans verabschiedete. In ihm werden Dinge, wie Rechte und Pflichten von Veranstaltern und Zuschauern, Stadionordnung und Wettbewerbsrichtlinien festgelegt. Gerade mit Hinblick auf die WM-Kandidatur Brasiliens für das Weltturnier 2014 wurde bald klar, dass es mit der Verabschiedung eines Gesetzes nicht getan war. Man musste aktivere Maßnahmen ergreifen: Deshalb wurde vor drei Jahren die „Kommission für Frieden im Stadion“ gegründet. Ihre Hauptaufgabe ist, den Stadiongang sicherer zu gestalten

Zentrale Empfehlung des vorliegenden, ersten Berichts ist die Durchführung eines Pilotprojektes, bestehend aus der Registrierung von Fanclubmitgliedern und eines Einsatzplans für Risikospiele in den Stadien São Paulos. Als Begegnungen mit erhöhtem Risiko sollen vor allem Derbys definiert werden, die eine besondere Rivalität aufweisen. Der Einsatzplan sieht vor, dass sämtliche Kassenhäuschen und Imbissstände geöffnet werden, genügend Toiletten vorhanden sind und ein Minimum an Hygiene garantiert wird. Erstaunlicherweise ist das nicht bei jedem Spiel Standard. Die weiteren Vorschläge für den Einsatzplan scheinen Fans eher als Gefahr, denn als willkommene Kunden anzusehen: Polizeikontrollen in den Linienbussen, weiträumiges Absperren des Stadions und verkürzte Gerichtsverfahren im Stadion werden angedacht. Die Idee, dass die Kartenvorverkaufsstellen drei Stunden vor Anpfiff geschlossen werden sollen, ist alles andere als kundenfreundlich, weil Anfahrtswege von ein bis zwei Stunden in São Paulo keine Seltenheit sind. Außerdem wird das voraussichtlich unkontrollierbare Verbot von Schimpfwörtern vorgeschlagen.

Element Zwei des Pilotprojekts sieht die Registrierung von Fanclubmitgliedern vor. Es wird vorgeschlagen, den großen Fanorganisationen, die vergleichbar mit den Ultras sind und mehrere tausend Mitglieder umfassen, einen eigenen Sektor im Stadion zu reservieren. Dabei wird anerkannt, dass diese Fans eine eigene Interpretation der Spielgestaltung haben und dass ihr Engagement für visuelle und musikalische Unterstützung ein wichtiger Teil des Spektakels Fußball ist. Deshalb brauchen sie einen Stehplatzbereich, in dem sie ungestört Fahnen schwenken, tanzen und Musik machen können. Den kostenfreien Zugang zu diesem Block erhalten jedoch nur Personen, die sich vom Verband registrieren lassen und den dabei angefertigten Fanpass vorzeigen können. Diese Jahreskarte in Scheckkartenformat wurde von Vertretern der Kommission als „der beste Freund der Fans“ bezeichnet. In allen anderen Bereichen der Stadien werden Fansymbole verboten.

Die Registrierung geschieht mit Hilfe eines speziellen Einsatzwagens der Zivilpolizei, der zwischen den Vereinssitzen hin und her pendelt. Die Fans müssen neben dem Vorzeigen ihres Personalausweises und der Steuernummer - ein in Brasilien übliches Verfahren - auch ihre Fingerabdrücke hinterlassen. In Bezug auf den Datenschutz können Zweifel aufkommen.

In der öffentlichen Meinung werden die Fanclubs als Urheber der Gewalt beim Fußball angesehen. Besondere Furcht haben viele Menschen vor der unorganisierten Organisiertheit dieser Gruppen. Zum einen treten sie als geschlossene Gemeinschaft auf, zum anderen ist es unmöglich, sich einen Überblick zu verschaffen, wer Mitglied ist. In den Augen der Gesetzgeber erschwert dies die Strafverfolgung. Nicht zuletzt deswegen wurde die Registrierung beschlossen.

Wie so oft liegen zwischen Idee und Ausführung Welten. Im Januar 2007 startete das Pilotprojekt in São Paulo. Am ersten Registrierungstag wurde festgestellt, dass die vorhandenen Computer lediglich die Personalien von 100 Personen pro Tag verarbeiten können. Allein die vier größten Fanclubs São Paulos haben jedoch schätzungsweise 20.000 bis 30.000 aktive Mitglieder. Die Registrierung würde also sieben bis zehn Monate dauern und könnte somit erst gegen Ende der brasilianischen Meisterschaft abgeschlossen werden.

Die Unzufriedenheit der betroffenen Fans wächst, da Anhänger auswärtiger Mannschaften keinen Fanpass benötigen und den Gästebereich ungestört betreten können. Einheimische Fans ohne Fanpass hingegen werden abgewiesen. Der Fußballverband hat diese Schwierigkeiten erkannt und deshalb beschlossen nur die Fanklubs der vier wichtigsten Vereine São Paulos zu registrieren. Anhänger kleinerer Vereine sollen sich „am Spieltag an den jeweiligen Einsatzleiter der Polizei wenden“, um die für sie geltende Vorgehensweise zu erfahren. Das führt zu einer Rechtsunsicherheit.

Teile der Bevölkerung werden vom Fußball komplett ausgeschlossen bleiben, weil sie bis heute noch ohne die gesetzlich vorgeschriebenen Papiere wie Personalausweis und Steuernummer leben. Für sie ist der kostenlose Fanpass unerreichbar.

Die allgegenwärtige Korruption und Desorganisation des brasilianischen Fußballs bekämpft man mit dem Pilotprojekt ohnehin nicht. Auch eine gut ausgebildete Polizei oder fangerechte Angebote sind nicht vorgesehen. Aber lobenswert ist die Erkenntnis, dass es verschiedene Arten des Fanseins gibt und jede ihren Freiraum benötigt. (Faszination Fankurve/Martin Curi, 16.4.2007)

Fanfotos Brasilien




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