06.06.2007 - Brasilien

Porto Alegre: Die Argentinisierung der Fans


Hinter dem Tor ist die Menge wieder in Hochform. Fahnen untermalen den seit 20 Minuten ununterbrochenen Gesang desselben Liedes. Jeder im Block scheint sich im Takt der Trommeln zu bewegen. Typisch argentinische Stadionstimmung eben.

Einige Dinge passen allerdings nicht in das Gesamtbild: Die Liedtexte sind nicht auf spanisch, sondern in portugiesischer Sprache. Das Stadion heißt weder Bonbonera noch Monumental, sondern Estádio Olímpico. Es befindet sich in der brasilianischen Stadt Porto Alegre und ist die Heimat von Grêmio.

Die südlichste Regionalhauptstadt Brasiliens war schon immer sehr von der „platinischen“ Kultur der Nachbarländer Uruguay und Argentinien beeinflusst. Im Gegensatz hat sich die Fanszene jedoch immer an den heimischen Zentren Rio und São Paulo orientiert. So gab es Fanclubs - hier Torcidas Organizadas genannt -, die kurze landestypische Sambalieder sangen. Diese Torcidas standen in engem Verhältnis zu den Vereinen, von denen sie Eintrittskarten und andere Vergünstigungen erhielten. Oft gab es dabei Unregelmäßigkeiten. Viele Leute machten sie für die Gewaltproblematik im Fußball verantwortlich.

Nach internen Streitigkeiten zwischen den drei wichtigsten Torcidas von Grêmio in den Jahren 2000 und 2001, beschloss die Vereinsführung radikale Schritte: Sie verbot jegliche Torcida-Symbole im Stadion und brach die Vergünstigungen und den Kontakt ab. Dies war der Startschuss für eine parallele Bewegung, die sich schon seit einigen Jahren im Olímpico entwickelte. Im Unterrang gegenüber der Plätze der Torcidas fanden sich einige Fans, die sich in Opposition zu den traditionellen Fanklubs explizit unorganisiert gaben. Sie lehnten die Zusammenarbeit mit der Vereinsführung ab, wollten singen und die Mannschaft unterstützen. Außerdem waren Pfiffe verboten. Diese „Geral“, so ihr Name in Porto Allegre, orientierte sich stark an den argentinischen Hinchadas, deren Lieder sie übernahm und ins Portugiesische übersetzte. Das Spiel hatte von Anfang an lediglich zweitrangige Bedeutung. Im Block herrschte Gesangspflicht, die Lieder werden wie ein Mantra wiederholt und ziehen sich, wie im Nachbarland, 20 bis 30 Minuten in die Länge. Es wurden sogar argentinische Begriffe, wie „trapo“ für Transparent, statt des Portugiesischen „faixa“, übernommen.

Mit dem Verbot der Torcida-Symbole erhielt die „Geral“ riesigen Zulauf. 2001 explodierte die Bewegung. Neben den Dauergesängen, dem Hüpfen und den Fahnen wurde über die Jahre besonders die sogenannte „Lawine“ zu ihrem Markenzeichen. Bei jedem Tor stürmt die ganze Menge zum Spielfeldrand herunter und erklimmt die Abgrenzung.

Schon bald musste die Vereinsführung von Grêmio feststellen, dass die „Geral“ nicht die Lösung der Probleme der ehemaligen Torcidas bedeutete. Denn die „Geral“ gab sich bewusst unorganisiert: Sie verzichtete auf Anführer, Mitgliederverzeichnisse und Vereinsregister. Für die zunehmende Gewaltproblematik konnte niemand mehr direkt verantwortlich gemacht werden. Die Situation geriet mehr und mehr außer Kontrolle.

Die Anhänger des Lokalrivalen Internacional reagierten auf die „Geral“ und gründeten ihrerseits die „Popular“. Unterschiede in der Philosophie gab es keine. Doch die Vereinsführung von Internacional war gewarnt und wollte den anonymen Status dieser Fans nicht dulden, deshalb gingen sie den entgegengesetzten Weg zu Grêmio, indem sie ihre Torcidas unterstützten. Man schuf ein vereinsinternes Register, bei dem sich Mitglieder einer Torcida unter Vorlage eines Passes und eines Führungszeugnisses einschreiben konnten, um Gratiseintrittskarten zu erhalten. Die Maßnahme hatte nicht ganz den gewünschten Erfolg: Die Torcidas von Internacional überlebten zwar, im Gegenzug konnte die „Popular“ aber nicht verhindert werden. Besonders Personenkreise, die sich nicht registrieren lassen wollten, bevorzugten die Anonymität der „Popular“. Heute steht die größte Torcida des Vereins „Camisa 12“ neben der „Popular“ im Stadion Beira Rio. Beide Gruppen werden nur durch einen Bereich von circa zehn Metern getrennt, der Gazastreifen genannt wird, weil es regelmäßig zu Auseinandersetzungen kommt.

Offiziell ist die „Geral“ von Grêmio weiterhin unorganisiert. In der Praxis scheint das jedoch nicht besonders glaubhaft, da es heute ein riesiges Transparent der „Geral“ bei jedem Spiel gibt. Das Beispiel könnte auch weiter nördlich am Zuckerhut Schule machen. In Rio de Janeiro gibt es bei Botafogo und Fluminense schon die ersten Gruppierungen, die die Philosophie der „Geral“ übernommen haben. Die Versuche sind noch zaghaft, aber vielleicht ändert sich das. Projekte, wie die Registrierung der Fans in São Paulo, dürften die Tendenz zu anonymen, unorganisierten Gruppen fördern. (Faszination Fankurve / Martin Curi, 6.6.2007)

Fanfotos Brasilien




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