01.06.2004 - Deutschland

Bewegung in der Stadionverbotsfrage?


In Leverkusen trafen sich Vertreter des DFB, der Fanprojekte und der Polizei, um über die aktuelle Stadionverbotspraxis zu diskutieren.

Mittlerweile elf Jahre ist es her, seit der deutsche Fußballbund neue Richtlinien erlassen hat, um die Gewalt im Umfeld von Fußballstadien effektiver zu bekämpfen. Durch die Einführung bundesweiter Stadionverbote kann auffällig gewordenen Personen über einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren der Besuch aller Stadien von der ersten bis zur dritten Liga sowie in Deutschland stattfindenden Spielen auf internationaler Ebene untersagt werden. Hält sich die betroffene Person nicht an das Verbot, begeht sie Hausfriedensbruch und kann juristisch belangt werden.

Die alltägliche Praxis im Umgang mit diesen Richtlinien wird von Fans und Fanprojekten jedoch seit Jahren kritisiert. Demnach fehle es bei der Durchführung an Transparenz, viele Strafen seien unverhältnismäßig lang und der Erteilung eines Verbots gehe kein rechtsstaatliches Verfahren, in den allermeisten Fällen nicht mal ein Anhörungsrecht für die betroffene Person, voraus.

Aufgrund der fortwährenden Kritik ließ Alfred Sengle, Sicherheitsbeauftragter des Deutschen Fußball-Bunds, eine Auswertung der derzeit aktuellen 1.661 Stadionverbote vornehmen. Dabei wurden verschiedene Ergebnisse sichtbar. So liegt die Zahl der Stadionverbote, die für Gästefans ausgesprochen wurden, mit rund zwei Dritteln deutlich höher als die der Verbote für Heimfans. Dieser Trend zeigt sich von der ersten bis zur dritten Liga.

Aufgrund des wiederholt geäußerten Vorwurfs, dass bei Stadionverboten im Hinblick auf die Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land bewusst Laufzeiten gewählt würden, die über 2006 hinaus gingen, lies Sengle exemplarisch die ausgesprochenen Verbote aus dem Jahr 2001 prüfen. Dabei stellte sich heraus, dass lediglich 0,01 Prozent der Verbote eine Laufzeit von unter drei Jahren haben. Über einen Zeitraum von fünf Jahre wurden 20,83 Prozent der Verbote ausgesprochen, 12,96 Prozent laufen über vier Jahre. Das in den Folgejahren erreichte Maximum bei fünfjährigen Stadionverboten liegt bei 26,67 Prozent.

Die meisten Stadionverbote wurden im Zusammenhang mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ausgesprochen. Rund 93,1 Prozent wurden aufgrund so genannter „schwerer Vergehen“, das sind in erster Linie Straftaten unter Anwendung von Gewalt gegen Leib und Leben, ausgesprochen. In wie vielen Fällen es nach der Einleitung des Ermittlungsverfahrens auch zu einer Verurteilung gekommen ist, lässt sich der Auswertung nicht entnehmen. Die Zahl der ausgesprochenen Stadionverbote aufgrund pyrotechnischer Vorfälle lag in den einzelnen Kategorien zwischen 2,14 und 14,67 Prozent.

Die ermittelten Zahlen sind Ergebnis der aktuellen Praxis, die Anfang Mai in Leverkusen Thema einer Podiumsdiskussion im Rahmen der „10. Bundeskonferenz der Fanprojekte“ war. An der Veranstaltung unter dem Motto „Die soziale Verantwortung der Vereine am Beispiel bundesweiter Stadionverbote“ nahmen Heinrich Bernhard als Mitglied der DFB-Sicherheitskommission, Bayer 04-Fanbeauftragter Andreas Paffrath, BAFF-Mitglied Wilko Zicht, Leverkusens Sicherheitsbeauftragter Ralf Ziewer, Ralf Busch vom Berliner Fanprojekt und Martina Schreiber von der Universität Liverpool teil.

Als Ergebnis einer kontrovers geführten Diskussion könnte es möglicherweise zu Änderungen im Umgang mit Stadionverboten sowie in den Richtlinien kommen. Heinrich Bernhardt, der diese in der aktuellen Form verfasst hat, zeigte sich gesprächsbereit und räumte ein, dass der DFB bestimmte Punkte noch einmal überdenken müsse. Insbesondere über ein Anhörungsrecht und das Erstellen einer Sozialprognose sollte in den kommenden Wochen intensiver gesprochen werden. Ziel müsse es sein, ein praktikables Vorgehen zu finden, betroffene Fans als Individuen entsprechend zu behandeln. Möglicherweise sei es falsch, einem Verein die Entscheidung über eine Person zu geben, die er nur einmal gesehen hat, stattdessen müsse die Möglichkeit gegeben werden, sich über die entsprechende Person zu informieren.

Thomas Schneider von der Koordinationsstelle Fanprojekte begrüßte die Gesprächsbereitschaft. Nach jahrelangen Diskussionen sei man nun einen deutlichen Schritt vorangekommen. Nun müssten die Ergebnisse aus Leverkusen als Grundlage für weitere Gespräche in der nächsten Zeit genutzt werden. Es war das erste Mal, dass sich ein ranghoher Vertreter der DFB-Sicherheitskommission so deutlich dafür ausgesprochen hat, die Einführung eines Anhörungsrechtes sowie den flexibleren Umgang mit bundesweiten Stadionverboten zu prüfen.

Zuvor war die derzeitige Situation von den anderen Teilnehmern der Diskussion scharf kritisiert worden. Wilko Zicht bezeichnet die Regelung als das Gegenteil von sozialer Verantwortung. Statt die Möglichkeit zu nutzen, auffällig gewordene Fans zu betreuen, würden diese ausgeschlossen. Ebenso sei es falsch, dass die Clubs, bei denen etwas vorgefallen ist, die bundesweiten Verbote aussprechen. Viel mehr sollten die Vereine, denen der Fan angehört, sich mit der Person befassen und die Einflussmöglichkeiten nutzen. Als besorgniserregend skizzierte er eine Entwicklung, wonach immer mehr junge Menschen aufgrund ihrer Erfahrungen, die sie beim Fußball gesammelt haben, Deutschland nicht mehr als Rechtsstaat wahrnehmen würden. Polizei und DFB müssten etwas dagegen unternehmen, dass sich bei diesen Fans bereits im frühen Alter diesbezüglich ein absolut negatives Bild entwickelt. Die fehlenden Möglichkeiten, sich gegen Verbote zu wehren, würden dieses Misstrauen noch unterstreichen.

Unterstützung erhielt Zicht von Leverkusens Fanbeauftragten Andreas Paffrath. Auf Personen, gegen die ein mehrjähriges Stadionverbot ausgesprochen wurde, hätten Fanprojekte keinerlei Einfluss mehr, daher müsse das ganze Konzept neu überdacht werden. Er forderte einen Arbeitskreis mit allen Beteiligten von Fanprojekten über die Vereine bis hin zu Polizei und DFB, um die Richtlinien komplett zu überarbeiten und einen Lösungsweg für die alltägliche Praxis zu finden. Stadionverbote würden ausgesprochen, ohne dass die Schuld der betreffenden Person bewiesen sei. Dieses Verbot durch ein ordentliches Gericht aufheben zu lassen sei ein monatelanger Prozess, den sich viele vor allem jüngere Fans nicht leisten könnten. Die im Grundgesetz verankerte Unschuldsvermutung würde in der Frage der Stadionverbote nicht greifen.

Ähnlich sah das Ralf Busch vom Berliner Fanprojekt. Dabei betont er, dass die Fans ihr eigenes Handeln in den letzten Jahren durchaus reflektiert hätten und als Ergebnis eines Diskussionsprozesses Stadionverbote nicht mehr kategorisch ablehnten. Auf der anderen Seite sei hingegen wenig Bewegung zu sehen. DFB und Polizei müssten mehr auf die Dialogbereitschaft der Fans eingehen. Ebenfalls kritisierte er das aus der Übernahmegarantie der Vereine resultierende Problem, nur sehr wenige Einflussmöglichkeiten auf die Stadionverbote zu haben, die bei Auswärtsspielen ausgesprochen wurden. Er machte sich für ein Beratergremium stark, bei dem eine Sozialprognose über die betreffende Person gestellt wird. Die Frage sei, ob die Verantwortlichen der Vereine die Einflussmöglichkeiten auf eine Person nutzen oder diese stattdessen für lange Zeit ausschließen wollten.

In den kommenden Wochen werden weitere Gespräche zwischen allen Beteiligten stattfinden. Sollten sich dabei tatsächlich Veränderungen in der Stadionverbotspraxis ergeben, wäre dies auch ein Erfolg für die vielen Fangruppen, die in der vergangenen Saison im Rahmen der Kampagne „in dubio pro Fans“ Aktionen durchgeführt haben.

Stadionverbote - eine Bilanz

Ende Februar 2004 hatten insgesamt 1.661 Personen ein bundesweites Stadionverbot.

Der Dauer des Verbots variiert in der Regel zwischen drei und fünf Jahren. Lediglich 0,01 Prozent haben eine niedrigere Laufzeit.

Die meisten Stadionverbote wurden in Zusammenhang mit Spielen der 1. Fußball-Bundesliga ausgesprochen, wie die nachfolgende Grafik verdeutlicht:

Betroffen waren von den Stadionverboten in besonderem Maße die Fans der Gastmannschaft, in der Gesamtbetrachtung 67,1 Prozent. Der höhere Anteil an Gästefans bei Stadionverboten ist in alle Ligen zu beobachten:

Bundesliga: 67 Prozent

2. Liga: 68 Prozent

Regionalliga Nord: 67 Prozent

Regionalliga Süd: 63 Prozent

90 Prozent der Verbote werden aufgrund so genannter „schwerer Vergehen“ ausgesprochen. Dazu gehören unter anderem Straftaten unter Anwendung von Gewalt gegen Leib und Leben, gefährliche Eingriffe in den Verkehr, Störung öffentlicher Betriebe, Nötigung, Verstöße gegen das Waffen- und Sprengstoffgesetz, Land- und Hausfriedensbruch, Gefangenenbefreiung, Raub- und Diebstahlsdelikte, Missbrauch von Notrufeinrichtungen, rechtsextremistische Handlungen sowie das Einbringen oder Abbrennen von pyrotechnischen Gegenständen. Die Erteilung erfolgte aufgrund eingeleiteter Ermittlungsverfahren. (Faszination Fankurve, 01.06.2004)

Fanfotos Deutschland




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