11.11.2014 - HoGeSa

​„Kobane ist gewonnen, wenn dort wieder der Ball rollt"


Am 26.10.2014 demonstrierten Hooligans gegen Salafisten in Köln. Am kommenden Samstag könnte eine weitere HoGeSa Demo unter dem Motto „Europa gegen den Terror des Islamismus“ laufen. Der vielgereiste Groundhopper Tobias Plieninger hat sich seine Gedanken zum Islam und Fußball gemacht.

Für Faszination Fankurve hat er seine Gedanken zum Thema aufgeschrieben und schildert darin Erlebnisse von vielen seiner Fußballreisen:

Islam und Fußball (von Tobias Plieninger)

Nach der Demo am 26.10.2014 in Köln gab es ein enormes mediales und politisches Echo. Inwiefern die Reaktion sinnvoll ist, will ich zum Schluss schreiben. Bevor das geklärt wird, geht es mir darum einen völlig anderen Blickwinkel auf das Verhältnis Fußball und Islam zu werfen, den nur ganz wenige haben. Auch das Thema Salafismus soll dabei beleuchtet werden. Das Ganze geschieht aus meiner persönlichen Sichtweise und damit aus dem Blickwinkel eines weit gereisten Fußballfans. Es ist ein Versuch meine Gedanken und Erlebnisse mit euch zu teilen.

Faszination Fußball und Religion

Der wichtigste Punkt muss gleich am Anfang gesagt werden: Fußballspielen und Fußballschauen ist ALLEN Moslems erlaubt. In ALLEN islamischen Ländern wird Fußball gespielt. Daher sind in der FIFA ALLE Verbände Mitglied und nehmen regelmäßig an den Wettbewerben teil. Einzige befristete Ausnahme sind Kriegsgebiete. Ein Stadion ist ein Ort, in dem es unendlich viel Hass und endlich viel Liebe gibt. Religion ist ein fester Bestandteil und kein Widerspruch zur Faszination Fußball. Fußball hat sowohl eine trennende als auch verbindende Funktion. Dies gilt auch im Bereich Religion. In den Stadien wurden schon Konflikte angeheizt und geklärt. Falls es überhaupt Zweifel daran gab, kann klar Entwarnung gegeben werden. Islam und Fußball sind vereinbar! Dies zeigt schon der Umstand, dass bei der WM von 32 Teilnehmern 6 aus muslimisch geprägten Ländern kamen. Das entspricht ungefähr auch dem Anteil der in der FIFA organisierten muslimischen Verbände von ca. einem Viertel. Woher kommt also die vermeintliche Sorge, wenn es wirklich um Fußball geht? Welche Anhaltspunkte geben Fußballfans Anlass zur Sorge vor dem Islam?

Islam und Fankultur

Die Fußballbegeisterung ist in den muslimischen Ländern unterschiedlich wie auf der ganzen Welt. Es gibt Vereine und Länder, in denen es eher bescheiden und ruhig ist. Doch es gibt auch Vereine und Fankurven, in denen es absolut genial zur Sache geht. Die Fußballbegeisterung und Emotionen bei den Derbys in Istanbul dürften allen geläufig sein. Galatasaray hält noch den Bengalo-Weltrekord mit 3000 Fackeln (!!!) im alten Ali Sami Yen Stadion https://www.youtube.com/watch?v=VT76sj-XOUg Im neuen Stadion schafften sie den Lautstärke Weltrekord https://www.youtube.com/watch?v=3yHnsFg313E Habt ihr das gewusst? Weniger bekannt wird höchstwahrscheinlich sein, wie genial ein Derby zwischen AL Hilal und AL Merrikh im Sudan sein kann. Das gilt natürlich auch für das Stadtderby in Teheran zwischen Esteghlal und Perspolis, zu dem über 100.000 Zuschauer kommen. Ein weiteres Highlight sind die Derbys in Kairo zwischen El Ahly und Zamalek. Ebenso in Tunesien zwischen Club Africain und Espérance de Tunis. Nicht zu vergessen das algerische Spiel der Spiele zwischen MC und USM Algier. Am besten ist momentan das Derby in der marokkanischen Stadt Casablanca zwischen Wydad und Raja. Eine echte unbekannte Perle ist nach Berichten einiger befreundeter Groundhopper die Fankultur in Indonesien. Da will ich unbedingt hin. Auch das Stadtderby im indischen Kalkutta soll ein Highlight sein, das ich noch sehen will. Dort gibt es viele muslimische heißblütige und leidenschaftliche Fans, geniale Stimmung, super Pyro-Aktionen, gute Choreos und wenn der Kessel überkocht auch mal Riots. Das ist nicht nur bei den Derbys geboten. Islam und Fankultur sind also problemlos vereinbar. Von der Leidenschaft in den Kurven kann gelernt werden. Woher kommt also die vermeintliche Sorge, wenn es wirklich um Fankultur geht? Schwingen da vielleicht eher etwas Neid und Bewunderung oder sogar alte, offene Rechnungen mit?

Gebet in der Halbzeit

Es gibt überhaupt keinen Widerspruch zwischen Leidenschaft und Islam. Besonders beeindruckt hat mich das beim Istanbuler Derby 2003. Bei diesem Spiel ging es zwischen Besiktas und Galatasaray um die Meisterschaft zum hundertsten Jubiläum von Besiktas. Auf den Rängen legte Besiktas einen super Support hin. Als Halbzeit war legten viele den Gebetsteppich aus und danach ging es in der zweiten Hälfte richtig rund und Besiktas wurde Meister. Ein unvergessliches Spiel. Ich fragte mich, ob die Besiktas Fans in der Halbzeit wohl für die Meisterschaft gebetet hatten, oder weshalb es danach noch lauter wurde. Da war mir das zum ersten Mal aufgefallen. Immer wieder ist mir das begegnet – auch in Afrika als die mitgereisten Fans aus Senegal beim Afrika Cup einen Gebetsteppich im Gepäck hatten. In Europa spielt Religion beim Fußball eher in der Form eine Rolle, dass von einer „Fußballreligion“ die Rede ist. Selbst bei den „orthodox-Brothers“ (Roter Stern, Spartak Moskva und Olimpiakos Piräus) scheint der Bezug eher vage. Wenn Religion so wichtig ist, weshalb beten eigentlich bei uns nirgendwo Leute im Stadion? Oder haben die Hooligans Angst, sie könnten in der Halbzeit nicht mehr zum Bierstand „raus rammeln“?

Alkoholfreie Gesellschaft

Ich hatte jedenfalls nie ein Problem damit, auf meinen Touren auf Alkohol zu verzichten. Ich fand das angenehm zu sehen wie eine Gesellschaft auch ohne Alkohol funktioniert. Für Alkoholiker würde ich der Krankenkasse raten, sie sollen ein one way Flugticket nach Saudi Arabien bezahlen. Selbstverständlich gibt es auch islamische Länder oder Menschen, die das nicht so eng sehen. Ein Arbeitskollege bei einem Ferienjob in der Autoproduktion sagte einmal zu mir: „Allah ist in Türkei, Prost!“ Ich hatte kein Bedürfnis mich vor Ort als dekadenter Deutscher aufzuspielen, wo es doch genügend leckere Getränke gibt. Vielleicht ist es auch der Reiz des Verbotenen. Ich fand es echt lustig, wie massenweise Wochenendtouristen von Saudi Arabien nach Bahrain fuhren. Beirut oder Manama sind dort ähnlich wie der Ballermann für uns. Da wird legal gesoffen :-) Als ich die kilometerlange Schlange sah, da wurde mir klar, dass es völlig unangebracht ist, an so einem Pauschalurteil der streng Gläubigen mit langen Bart, Ganzkörperschleier und Koran fest zu halten. Selbst in Saudi Arabien ist das nicht der Fall. Haben die Hooligans etwa Angst bei uns würde tatsächlich eines der am meisten verkauften Produkte verboten?

Islamische Gastfreundschaft

Gerade auf den Reisen in islamische Länder war es immer wieder beeindruckend wie freundlich mir die Menschen trotz ihrer teilweise bescheidenen Möglichkeiten begegnet sind. Teilweise war es schon etwas peinlich. Freilich erlebte ich auch ein paar Geschäftemacher, die dann beiläufig erwähnten, dass sie noch einen Teppich im Angebot hätten oder ein Schwager, Cousin oder Bruder, der ein Hotel oder Restaurant oder was auch immer hat. Was jedoch ausnahmslos wunderbar lief, war die Verständigung über Fußball. Sobald das Wort nur erklang war ich mit allen auf einer Wellenlänge. Dann wurde es freundschaftlich. Essen und Getränke wurden spendiert und nur der Gedanke daran, den Geldbeutel zu zücken, war schon gefühlt ein Affront. Bei Al Fath in Saudi Arabien bin ich Ehrenmitglied, weil ich der erste ausländische Gast im neuen Stadion war. Ich wurde gefeiert wie ein Popstar. Das war einfach unglaublich. Welcher deutsche Profiverein hat jemals einen ausländischen Gast zum Ehrenmitglied ernannt? Haben die Hooligans etwa Angst sie würden mit Teppich-Angeboten überschwemmt? Haben sie noch nie einen Tee zur Beruhigung getrunken? Sind sie noch nie eingeladen worden?

Es wird langsam besser

Das hier soll kein Lobgesang werden, der Probleme völlig ausblendet. Die gibt es überall. Das eben und der Fußball sind kein Wunschkonzert. Vielfach wird darüber gesprochen, dass Frauen in islamischen Ländern beim Fußball keinen Zugang haben. Da kommt automatisch der Gedanke an schwarz verschleierte Frauen auf, was irgendwie bedrohlich und befremdlich wirkt. Anlässlich des Länderspiel Iran gegen Deutschland konnten zwei Frauen aus meinem Bekanntenkreis das Spiel verfolgen. Aktuell ist das immer noch eine seltene Ausnahme, die durch viele Bemühungen möglich wurde. Frauen sind eine Seltenheit beim Fußball. Doch auf dem Rasen gibt es immer mehr Frauen, die das dann für sich betreiben. Eine der bekanntesten weiblichen deutschen Fußball-Ikonen ist seit mehr als zehn Jahren als Fußball-Botschafterin in muslimischen Ländern aktiv. Sie meinte im Jahr 2010: „Es dauert halt“. An der Stelle soll auch erwähnt werden, dass es immer mehr muslimische Moderatorinnen und Reporterinnen gibt. Haben die Hooligans wirklich Sorgen um die Rolle der Frauen? Wie viele von ihnen kennen Monika Staab? Wieviele haben schon vom Frauenfußballprojekt von Discover Football gehört?

Der Islamische Staat und Fußball

Wenn ich als Groundhopper schon auf die Landkarte schaue, was alles gerade an Reisen aufgrund Terrorgefahr unmöglich ist, dann ergibt das eine lange Liste, die bis in Teile von ehemals beliebten Regionen geht. Das macht mir schon große Sorgen. Schon lange bevor es in Syrien solche Entwicklungen gab, waren Reisen nach Somalia unmöglich. Das ist so, weil dort Menschen das Sagen haben, die Fußball für eine Sünde halten. Selbst wenn ich zu dem Abenteuer bereit wäre, könnte ich kein Fußballspiel sehen. Ich kann mir zwar kaum vorstellen, ob die Dschihadisten langfristig auf Fußball verzichten können. Eine Gesellschaft nur mit Koran in Schwarz und ohne Fußball, wie soll das wohl langfristig funktionieren? War dies die Sorge, die am Sonntag die Hooligans auf die Straße getrieben hat?

Failed States und Fußball

Ein wichtiger Indikator für die Situation in den Ländern ist für mich, ob Fußball gespielt wird. Kurz bevor der islamische Staat seine grausamen Angriffe auf Jesiden und Kurden im Nordirak startete wurde dort noch gespielt. Am 18. Oktober spielte der Verein Erbil SC aus dem kurdischen Autonomiegebiet im Finale um den AFC-Cup, das asiatische Pendant zum UEFACup. Das Spiel wurde nach Dubai verlegt. Sie verloren im Elfmeterschießen, so konnten sich leider die Fans in kritischen Zeiten nicht über einen Sieg freuen. Wie entspannt oder angespannt die Situation in Israel und Palästina ist, kann leicht bei einem Blick gesehen werden wo das Spiel angepfiffen wird. Wenn internationale Spiele von Maccabi, Hapoel oder anderen Teams auf Zypern stattfinden, dann sieht es leider kritisch aus. Auf der Westbank und in Gaza reicht als Gradmesser ein Blick, ob überhaupt gespielt wird. Ein Lichtblick bei diesem Maßstab ist, dass in Afghanistan wieder der Ball rollt. Fußball statt Hinrichtungen im Stadion von Kabul, das ist ein gutes Signal. Ebenso wichtig wie seinerzeit der Umstand, dass das Stadion Kosevo in Sarajevo nicht mehr als Friedhof genutzt wurde. Längst kann dort auf den Rängen wieder gejubelt werden. Für Syrien und Somalia und die anderen Länder kann ich nur hoffen, dass dort bald wieder angepfiffen wird und dass Fans dort wieder mit Lust und Leidenschaft ihre Mannschaften unterstützen. Wie auch immer die Staaten oder Verbände sich dann nennen werden – ich bin am Start sobald der Ball rollt. Ging es den Hooligans auch darum, dass wieder Fußball gespielt werden kann in Syrien, Irak und Somalia? Haben sie Sorgen um die Sicherheit bei Reisen in andere arabische und afrikanische Länder?

Salafismus und Fußball

So streng es auch zugeht in Saudi Arabien, eines kann doch festgehalten werden: Freitags werden Menschen gesteinigt und Fußball gespielt. Das Verhältnis der streng gläubigen Muslime zum Fußball ist ambivalent wie die Beziehungen einiger Öl-Multis zum IS. Im Jahr 2008 berichtete der Spiegel Reporter Jan Brandt über ein „weibliches Wunder“, dass anlässlich der Buchmesse in Riad auch Frauen ein Freundschaftsspiel zwischen saudischen und deutschen Schriftsellern verfolgten. Selbst im strengsten islamischen Land wird es also langsam besser. Ging des den Hooligans darum dieses ambivalente Verhältnis aufzuzeigen und für langsame Besserung einzutreten?

Islam und Amateurfußball

Fußball wird überall gespielt – ob mit Dosen, Stoffresten, Lederbällen oder was auch immer. Unter einer Altersgrenze auch zwischen Jungs und Mädchen. Viele tragen Trikots ihrer Lieblingsclubs mit Stolz. Die neue Generation der Messis und Ronaldos wächst heran. Auch bei uns in Deutschland entwickelt sich eine islamische Fußballszene. Der SV Muslime ist ein besonders interessantes Beispiel. Dieser Verein hat schon dreimal den Fairness-Pokal gewonnen. Fußball kann verbinden. Sie sind sunnitische Muslime aus 12 (!!!) verschiedenen Ländern. Alle, die sie respektieren sind willkommen. In der FAZ wird der Trainer zitiert: „Politik wolle man aber nicht machen, sondern Fußball spielen – und natürlich als Verein wachsen.“ In Berichten über den Verein quoll die Kommentarspalte durch Einträge der „white web warriors“ über. Störte sie der unpolitische Charakter? Haben die „unpolitischen“ Hooligans Angst vor einem unpolitischen, muslimischen Fußballverein? Wollen Hooligans die Kontakte zu muslimischen Amateurfußballern verbessern?

Islamische Fußballfans und die Revolution

Wenn wir schon bei der Politik angelangt sind, will ich meinen subjektiven Eindruck schildern, dass in fast allen muslimischen Ländern Politik in den Kurven keine wichtige Rolle spielt. Ausnahmen bestätigen die Regel. Wenn es zu solchen Ausnahmen kommt, dann ist das aus meiner Sicht nachvollziehbar, weil enorme Probleme und Krisen vorhanden sind. In Ägypten waren die Ultras führend verantwortlich für das Ende von Mubarak. Leider waren sie nur ausführend beim Sturz und hatten keinen Plan, wie es danach hingehen soll. Besser sieht das schon bei den Kurden aus. Sie sind fokussiert auf die Verteidigung ihrer stillen Revolution. Das Streben nach demokratischen Föderalismus, wie es der kurdische Galatasaray-Fan Onkel „Apo“ Öcalan formuliert hat unterscheidet sie klar von einer „Weg-von Mubarak-Bewegung“ in Ägypten. Momentan ist von Rojava und Kobane inzwischen in aller Welt die Rede. Was die Wenigsten wissen ist, dass die Initialzündung bereits im Jahr 2004 auch beim Fußball gefallen ist. Am 12. März kam es beim Spiel zwischen der kurdischen Mannschaft al-Qamishli und der syrischen Mannschaft al-Futuwah aus Deir ez Zor zu Ausschreitungen. Durch einen Polizeieinsatz starben am Tag selbst neun Menschen. In den folgenden Tagen kam es bei Demos in anderen Städten wieder zu Konflikten mit der Polizei die Schusswaffen einsetzen. Es starben insgesamt 32 Menschen und 160 wurden verletzt. Auslöser waren Spannungen zur Partei von Assad und dessen Anhängern. Anschließend schritt die politische Organisierung weiter voran. Darauf baute dann in dem syrischen Bürgerkrieg die kurdische Autonomiebewegung auf. Im November 2013 wurde die Autonomie des Gebiets Rojava ausgerufen. Das wird momentan mutig gegen den IS verteidigt. Sympathisieren die Hooligans mit der stillen Revolution, die 2004 beim Fußball begann? Geht es ihnen um die Unterstützung für die zu deren Verteidigung kämpfenden YPG (Volksverteidigung) und YPJ (Frauenverteidigungseinheit)? Was fasziniert sie an der Macht der Massen wie in Ägypten? Welche Ziele verfolgen sie?

Islamische Fußballfans und Repression

Fans die für ihre Rechte kämpfen und die Verhältnisse in Frage stellen, das womöglich noch über den Fußball hinaus, werden immer mit Repression konfrontiert. Erst recht wenn die Ambitionen und Chancen etwas zu ändern sich vergrößern. Selbstverständlich gibt es auch in islamischen Ländern viele Fans, die das mit einem bewundernswerten Mut tun. Der in Europa vielfach zu vernehmende Ruf „gegen den modernen Fußball“ ist dort gar nicht nötig, weil es viel mehr alte Stadien und nach meinem Eindruck freiere Fankultur gibt. Doch auch dort ist leider teilweise ein Wechsel erkennbar. „In den Farben getrennt und in der Sache vereint“, das ist ein Spruch, der auch gelebt wurde durch „Istanbul United“. Nach den Protesten im Gezi-Park kämpften ehemals verfeindete Ultras und Fans von Galatasaray, Fenerbace und Besiktas zusammen gegen die Einheiten der Istanbuler Polizei. Für Ministerpräsident Erdogan sind sie ebenso Terroristen wie die Kurden, die für Autonomie und ihre Rechte kämpfen. Im Dezember beginnt der Prozess gegen die Carsi Mitglieder. Das neue Ticketsystem „Pasolig“ kann als klare Kampfansage an kritische Fans gewertet werden. Über unterschiedliche Verbindungen profitieren auch Unternehmen aus dem Erdogan-Umfeld von diesem Sicherheitswahn. Wollen die Hooligans „vereint in der Sache“ gegen Erdogans Law and Order Kurs oder andere Repression protestieren? Zu welchem Zweck haben sie die Istanbuler Vereinigung nachgeahmt? Wie konstant ist dieser Pakt?

Viele Fragen und eine klare Antwort

Die von mir aufgeworfenen Fragen zeigen, dass es genügend Gründe gibt auf die Straße zu

gehen:

-Für die Unterstützung der YPG und YPJ und der Menschen in Rojava

-für die von Repression betroffenen Fans in Istanbul, wegen berechtigter Kritik an Erdogans Law and Order Kurs oder um sich gegen andere Repression zu äußern

-um auf das ambivalente Verhältnis von Salafismus und Fußball aufmerksam zu machen

-um auf die Ablehnung des islamischen Staats gegen Fußball(fans) hin zu weisen

-für die Rechte weiblicher Fans und Spielerinnen in islamischen Ländern

-für die Unterstützung islamischen Amateurfußballs

-damit der Fußball auch in „failed States“ wieder rollen kann

-zum Zeichen des Dankes für islamische Gastfreundschaft und für die Faszination Fußball unabhängig von Religion

-als Verteidigung gegen gewaltbereiten Salafismus.

Die einzigen, die in Deutschland IS Anhängern Paroli bieten, sind Kurden und wenige Linke. Aus meiner Sicht ist das Ganze nur ein Vorwand zur Wiederbelebung oder ein PR-Gag für die „Musiker“ von Kategorie C. Eigentlich erfreulich, dass sie sich nicht ein anderes Gebiet gesucht haben, das mehr Leute gezogen hätte. Mit etwas Nachdenken hat es auch etwas Gutes, dass die erste große Demo gleich zum riesigen Gesichtsverlust führte. Wo ist das Problem? Den meisten Hools fehlen solche persönliche Erfahrungen, die auf Reisen am besten zu gewinnen sind. Doch auch hier in Deutschland ist es möglich, sich mit anderen (Fan)kulturen zu beschäftigen. Das ist offensichtlich nicht erfolgt. Woran das liegt? Am deren Kleingeist oder der bei uns immer weiter voranschreitenden Parallelgesellschaft. In den Kurven sind im Vergleich zur Bevölkerung Muslime gering repräsentiert. Das liegt jedoch nicht am Desinteresse der Muslime hierzulande am Fußball. Der Gegenbeweis dazu wurde bei der WM 2008 eindrücklich gezeigt. Auch wenn die bekannten Mannschaften aus der Türkei bei uns gastieren, ist immer was geboten. Wie sieht es beim Vereinsfußball und Amateurfußball aus? Was die Verbindung zwischen Vereinen und Fanszenen anbelangt ist Potential vorhanden. Der seltsame Unmut liegt auch daran, dass gesellschaftliche Probleme falsch kanalisiert werden. Auch andere Ursachen sind vorhanden. Das zu beschreiben würde wohl noch mehr Platz brauchen. Eines ist jedenfalls sicher: Am Sonntag haben die Hools mal wieder gezeigt in welcher Kontinuität sie stehen. Es ist auch keine neue Dimension der Gewalt und des Rassismus, wie viele nun behaupten. Es ist eine Wiederbelebung längst vergangen geglaubter Verhaltensweisen. Wäre ja lustig, wenn das so eine 80er Revival Party gewesen wäre, wie letzte Saison bei einer Mottofahrt der Fans von Eintracht Frankfurt. Nein, das war es nicht, es war grausame Realität! Da haben am Sonntag 4000 Leute oder mehr bewiesen, dass sie im Jahr 2014 bis auf die Nutzung sozialer Netzwerke noch in den 90er hängen geblieben sind. Der Fremdschamfaktor war ähnlich hoch wie nach dem Auftritt 1996 in Zarbze. Böse Erinnerungen wurden wach an das Transparent „Schindler-Juden wir grüßen Euch“. Allen die am Sonntag einen verständlichen Unmut unkanalisiert zum Ausdruck bringen wollten, die wissen nun woran sie sich beteiligt haben. Es war ein Veranstaltung für, die ich mich bei allen meinen freundlichen Gastgebern und verrückten Fußballfreuden in zahlreichen muslimischen Ländern und bei allen meinen Freunden verschiedener Herkunft hierzulande extrem schäme. Am liebsten würde ich im Boden versinken. Fast genauso schlimm wie bei den polnischen und jüdischen Fußballfreunden wegen Zabrze damals. Als ich über die Ereignisse vom Sonntag nachgedacht habe, habe ich mich gefragt, wie das wohl auf muslimische und ausländische Fußballfans wirkt? Wie denken andere Fans wohl über unsere Fankultur nach der Demo vom Sonntag? Werden sie auch zu einem Pauschalurteil kommen wie unsere Hools? Können sie differenzieren wer da verantwortlich ist und wer nicht? Nach dem Auftritt wäre das für mich absolut verständlich, wenn sie uns alle als rechten Hass-Mob wahrnehmen würden, der keinerlei Interesse an ihnen hat. Erinnerungen an NSU, Solingen, Mölln und Winterbach um nur einige Dinge zu nennen, werden nach diesem Tag wach. Schon der Sachverhalt, dass angebliche unpolitische Hooligans eine Demo angemeldet haben enttarnte den langjährig gewahrten wackeligen Ruf der Pseudo-Unpolitischen. Erst recht zur Farce macht dieses Theater der Umstand, dass sie sich ausgerechnet ein Thema ausgesucht haben zu dem nicht einmal die vielfach von ihnen kritisierten linken Fußballfans gearbeitet hatten. Positiv muss festgehalten werden. Die Hools haben sich selbst in Abseits gestellt und alle, die das verteidigen, tun dies ebenso.

Fazit und Ausblick

Aus persönlichen Erfahrungen habe ich einen insgesamt positiven Eindruck vom Fußball in islamischen Ländern gewonnen. Dennoch gibt es auch Punkte, die nicht unter den Tisch gekehrt werden sollen. Das Unbehagen halte ich für berechtigt, was den islamischen Staat und die Allmachtsphantasien von Erdogan anbelangt, wobei ich das nicht auf eine Stufe stelle. Die Hools haben am Sonntag unerwartet deutlich ihr wahres Gesicht gezeigt. Alle, denen es wirklich um die aufgeworfene Fragen geht, die werden sicher bessere Wege finden ihr Engagement zu koordinieren. Was ist nun zu tun? Aus meiner Sicht bringt diese mediale und politische moralische Empörung gar nichts. Es kann sogar das Gegenteil bewirken wie zahlreiche Studien zum Thema „moral panic“ beweisen. Es droht, dass die Hools ähnlich medial gepusht werden, wie ihre vermeintlichen Gegner vom IS mit deren PR-Taktik. Doch bei den Medien ist wohl die Sensationsgier höher als die Vernunft. Ich plädiere dafür die Sache lösungsorientiert anzugehen. Am besten wird es sein, wenn es Gegenwind auf unterschiedlichen Ebenen in einer für sie verständlichen Art und Weise gibt. Lens 1998 war durch verschiedene glückliche Umstände und Zufälle ein Wendepunkt für die Fankultur in Deutschland. Das war der Beginn des Niedergangs der Hools, die dann von den Ultras abgelöst wurden. Da stand kein großer Plan dahinter und die ganzen Politiker, Soziologen, Wissenschaftler und Besserwisser, die nun aus allen Löchern gekrochen kommen, haben dazu wenig beigetragen. Mein Wunsch wäre, dass Köln 2014 ähnlich wie Lens 1998 ein Wendepunkt wird und viele muslimische, kritische und heißblütige Fans in unsere Kurven und unsere Ultra Gruppen kommen und dass die Verständigung beim Amateurfußball besser wird. Es liegt jetzt an allen Fußballfans darauf zu reagieren und zu zeigen, dass solche rechte Politik auf den Müllhaufen der Geschichte gehört und weder auf der Straße noch in der Kurve Platz hat. Wir sollten alle dafür einstehen das falsche Bild vom Sonntag wieder gerade zu rücken.

Epilog

Eines haben die Hools erreicht: Die haben viele aufgeweckt, in dem durch ihren Auftritt deutlich wurde, dass der Fußball neben dem verbindenden eben auch den trennenden Charakter hat. Der Fußball ist kein Wohlfühluniversum. Im Stadion treffen unterschiedlichste Menschen und Interessen aufeinander. Das geht nicht ohne Spannungen und wenn es dumm läuft, kann das auch mal außer Kontrolle geraten. Selbst im alten Rom hat es bei Sportveranstaltungen schon gescheppert. Das war immer schon so und wird wohl so bleiben. Weil Unterschiede und Spannungen zum Leben gehören halte ich diese Rufe nach Verbot und besserer Kontrolle für gefährlich und unsinnig. Denn mit dem Verbot wird ja keine Spannung ausgeräumt und die Hools werden dann auf anderen Ebenen ihre Feinbilder pflegen und den „guten Deutschen“ wahlweise ausländische Schmarotzer, Volksverräter, Salafisten, Islamisten, Dschihadisten oder was auch immer gegenüberstellen. Wenn es im Zusammenhang mit dem Fußball Verbote gibt, bleibt Trennendes bestehen und die integrative Kraft des Spiels das Menschen unterschiedlichster Herkunft auf der ganzen Welt begeistert geht verloren. So plädiere ich dafür, dass wir darauf blicken, wie sich Gesellschaften und ihre jeweils herrschende Klasse zum Fußball stellen: Kann der Ball rollen? Kann die Fankultur in unterschiedlichen Ausprägungen gelebt werden. Unterschiedliche Ausprägungen, unterschiedliche Mannschaften, unterschiedliche Nationen, unterschiedliche Religionen. Da brauchen wir uns nichts vormachen. Da gibt es Leidenschaft und Emotionen die aufeinanderprallen. Und doch bringt gerade das zusammen. Das gehört zum sportlichen Wettbewerb und ganz besonders zum Reiz des Fußballs. Und da gilt es den Spagat zu schaffen, dass bei allem Trennenden das Verbindende überwiegen kann. Da sind alle Seiten gefragt.

Die Verantwortlichen vom islamischen Staat haben offensichtlich dafür keine Antenne. Ihr Feindbild zeigt sich im grausamen Vorgehen gegen alle die anders denken, glauben und handeln. Da wird nichts Verbindendes zu anderen gesucht. Konsequenter Weise wird auch im islamischen Staat kein Fußball gespielt. Doch gerade das bringt mich auch noch auf eine Idee was dagegen getan werden könnte. Denn das Gedankengut im islamischen Staat kann nicht militärisch besiegt werden. Diese Gotteskrieger und ihr PR-Apparat müssen ideologisch viel mehr contra bekommen. Die moralische Empörung können wir uns dabei schenken. Sie dient nur der Versicherung der eigenen scheinbaren moralischen Integrität. Es müssen neue Ansätze entwickelt oder altbewährte genutzt werden. Meine Idee, von der ich gesprochen habe, ist Folgende: Im zweiten Weltkrieg haben britische Flugzeuge Flugblätter mit Kopien von Schriften der Widerstandsgruppe weißen Rose über Deutschland abgeworfen. Das geschah mit dem Ziel die Leute zum Nachdenken und Handeln anzuregen. Vielleicht sollten über den IS-Gebieten ein Schreiben von islamischen Fußballspielerinnen und Spielern zusammen mit Packungen von Panini Bildern, Autogrammkarten, Fußbällen und Trikots abgeworfen werden. Gut wäre auch über Äther und Satelliten Fußballübertragungen ins IS-Gebiet zu senden. Der subversive Charakter von Fußball(fans) hat schon manches politische System ins Wanken gebracht. Weshalb denn nicht den islamischen Staat? Es sollten Spitzenmannschaften und Spitzenspieler und Spielerinnen aus der ganzen Welt sich politisch engagieren. Wie seinerzeit Javier Zanetti ein Spiel zwischen den Zapatistas und Inter organisierte, so sollten Fußballmannschaften durch die arabische Welt und angrenzende Staaten reisen und voll auf den verbinden Charakter des Fußballs setzen. Ein positiver Nebeneffekt davon wäre, dass die finanziellen Interessen und Pläne der FIFA dem sportlichen, menschlichen und dem politischen Charakter zurückstecken müssten . Wenn Fußball gespielt wird, dann haben die Gotteskrieger eine Schlacht verloren und doch unendlich viel gewonnen: Die Einsicht, dass man den Gegner braucht um spielen – um leben zu können! Der Kampf um Kobane ist erst endgültig gewonnen, wenn dort wieder der Ball rollt. Als Initiator des Spiels wäre wohl Didier Drogba am besten geeignet. Warum das? Den hat Öcalan im November 2013 als Vorbild für den Friedensprozess genannt.






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