16.06.2020 - Pyrotechnik

„Pyros sind der Zankapfel, wenn es um Fankultur geht“


Die Fanarbeit Schweiz, die Soziale Arbeit im Umfeld von Fußball- und Eishockey-Fans betreibt, hat ihren Jahresbericht 2019 veröffentlicht, sich darin ausführlich mit dem Thema Pyrotechnik in der Schweiz auseinandergesetzt und Handlungsempfehlungen abgegeben.

„Pyrothematik ist im Normalfall allgegenwärtig und beeinflusst die ganze Fanpolitik. Wir müssen festhalten, dass wir in dieser Diskussion in einer Sackgasse stecken. Der eingeschlagene Weg, mit laufenden Verschärfungen gegen den Einsatz von Pyromaterial hat die Lage nicht beruhigt – im Gegenteil: Pyros sind der Zankapfel, wenn es um Fankultur geht“, erklärt die Fanarbeit Schweiz das vorliegende Problem bereits in der Ankündigung ihres Jahresberichts.

Seit Ende der 60er-Jahre wird Pyrotechnik von Fans in der Schweiz als Stilmittel eingesetzt und bis heute verwendet. Verschiedene Gesetzesverschärfungen und Repressionen in den letzten 20 Jahren haben daran nichts ändern können. Laut der Fanarbeit Schweiz sei der Einsatz von Pyrotechnik trotz verbesserter Videoüberwachung und strengerer Gesetze zuletzt angestiegen. Der Einsatz von pyrotechnischen Gegenständen würde in Medien und Politik aber immer mehr zum Problem stilisiert.

Wenn in der Schweiz bei einem Spiel mindestens 30 pyrotechnische Artikel eingesetzt werden, wird die Partie von den Behörden automatisch als „gewalttätige Auseinandersetzungen mit einer besonderen Schwere“ gewertet, unabhängig davon, ob es zu Verletzungen kam oder die Pyrotechnik kontrolliert abgebrannt wurde.

Das 2015 von der Fanarbeit Schweiz entwickelte Good-Hosting-Konzept, das bei Durchsuchungen an Eingängen zu Gästeblöcken nur in Stichproben vorsieht, wurde 2019 vom Kanton Wallis aufgekündigt, nachdem GC Zürich-Fans am 16. März 2019 beim FC Sion u.a. mit Pyrotechnik für einen Spielabbruch sorgten (Faszination Fankurve berichtete). Dieser Einzelfall, der mit dem drohenden Abstieg des Grasshopper Club zusammenhing, sorgte letztlich für eine Verschärfung für alle Gästefans im Wallis. Die Fans des FC Zürich zeigten jedoch schnell, dass strengere Einlasskontrollen große Pyroaktionen keinesfalls verhinderten und bei den Kontrollen lediglich in die Hose gesteckte Möhren gefunden wurden.

Laut Aussagen der Fanarbeit sei Pyrotechnik in der Fanszene mittlerweile „nicht nur als wichtiges und unentbehrliches Stilmittel zu verstehen, sondern auch als Protest- und Rebellionsmittel gegen den modernen Fussball und zum Erhalt der Ultrakultur“. Auch in der Schweiz reagierten die Fanszenen auf steigende Kameraüberwachung und Verfolgung mit einheitlicher Kleidung und dem Abdecken der Pyrozünder durch Fahnen, unter denen sich vermummt wird. „ Aus diesen Aktionen und Reaktionen ist eine Schraube der Entwicklung entstanden, die beide Seiten immer wieder zu neuen Lösungen führt. Das Halten einer Fahne im falschen Moment kann dazu führen, verzeigt zu werden, obwohl man mit Pyro nichts zu tun hat; rein aus dem Grund, dass die effektiven Täterschaften schwer zu eruieren sind und der Druck auf Fankurven trotzdem aufrecht gehalten werden soll. Das wiederum verstärkt bei Fans das Gefühl von Willkür und beeinflusst ihr Verhalten. Die Vergangenheit hat eindrücklich aufgezeigt, dass dieser Teufelskreis mit einfachen Maßnahmen nicht zu durchbrechen ist. Recht- und Unrechtempfindungen erschweren das Finden von gangbaren Lösungen und weisen auf die Frage der Deutungshoheiten hin“, weist die Fanarbeit Schweiz darauf hin, dass nur durch Dialog eine Lösung gefunden werden kann.

Aus Sicht von Fanarbeit Schweiz kann die Diskussion über die sogenannte „kalte Pyrotechnik“ dabei als Startschuss verwendet werden, um gemeinsam nach neuen Wegen zu suchen. Eine Entkriminalisierung von Pyrotechnik wäre dabei in den Augen der Sozialarbeiter ein erster wichtiger Schritt.

Die Fanarbeit Schweiz empfiehlt konkret „die Entkriminalisierung von Pyrotechnik als Stimmungsmittel, indem die gängige Dreifachbestrafung (Privat-, Strafund Verwaltungsrecht) für Mitführen oder Abbrennen von Pyrotechnik aufgehoben wird“, „eine klare Abgrenzung zwischen der Verwendung von Pyrotechnik als Stimmungsmittel und dem gezielten Einsatz als Waffe oder Wurfgegenstand“, „ in jedem Fall eine Differenzierung der Art der pyrotechnischen Artikel, deren Einsatzort und Folgen und die Berücksichtigung dieser Erkenntnisse bei allfälligen Sanktionen“, „eine Abkehr von der Verfolgung sogenannter «Gehilfenschaften», die viele Fans und Choreografien grundlos unter Generalverdacht stellt“, „eine objektive (Neu-)Definition von «nachweislich gewalttätigem Verhalten» in Art. 2 des «Hooligan-Konkordats», welche ein realistisches Bild vermittelt und die sozialpädagogische Arbeit nicht behindert“, „den konsequenten Verzicht auf Androhungen und den Einsatz von Kollektivstrafen oder -massnahmen, zum Beispiel verschärfte Eingangskontrollen oder Fahnenverbote“, „einen Verzicht auf stigmatisierende Zuschreibungen und auf Anstiftung zur sozialen Ächtung von delinquenten Personen seitens Behörden, Clubund Verbandsorganen sowie Medienschaffenden“ und ruft „alle Beteiligten dazu auf, ihren Beitrag zu einer sachlichen Dialogkultur zu leisten.“ Hier geht es zum gesamten Jahresbericht 2019 der Fanarbeit Schweiz. (Faszination Fankurve, 16.06.2020)







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