20.06.2016 - Euro 2016

„Eine richtige Massenpanik brach aus“


Faszination Fankurve sprach mit dem deutschen Fanfotografen Claude Rapp, der die Auseinandersetzungen im Stade Velodrome anlässlich des England gegen Russland Spiels im gleichen Block miterlebte und auch bei Vorfällen in der Innenstadt vor Ort war, über seine Eindrücke aus Marseille.

Faszination Fankurve: Du hast zu Beginn der Euro2016 das Spiel England gegen Russland in Marseille besucht und eine Eintrittskarte für den Block im Stade Velodrome gehabt, indem es nach dem Spiel zu Auseinandersetzungen kam. Was ist dort aus deiner Sicht vorgefallen?
Claude Rapp: Nach dem 1:0 der Engländer gab es die üblichen Provokationen seitens der Engländer in Richtung der Russen, aber alles im Rahmen. Nach dem 1:1 Ausgleich der Russen kurz vor Abpfiff flogen dann ein paar Becher hin und her und Nettigkeiten wurden ausgetauscht. Seitens der Engländer gab es aber keine Angriffsversuche. In diesem Nachbarblock waren eher normale Fußballfans der Engländer sowie viele neutrale Zuschauer und Familien.
Direkt nach dem Schlusspfiff lief dann eine sportlich motivierte Gruppe von circa 70 Personen in Richtung Nachbarblock. Ein paar Ordner versuchten die Russen dann aufzuhalten, aber den Ordnern ging es vermutlich eher um die eigene Sicherheit, sodass die Russen ohne Mühe durchbrachen und los rannten. Ein paar wenige Engländer stellten sich, mussten aber dann auch schnell den Rückwärtsgang einlegen. Die restlichen Zuschauer flüchteten in alle Richtungen und eine richtige Massenpanik brach aus. Einige rannten zu den Ausgängen, andere an das Ende der Tribüne und viele sprangen in den Innenraum.
Irgendwann kamen ein paar Polizisten im blauen Trainingsanzug. Da frag ich mich, was die da machen wollten ohne Schutzkleidung. Nach kurzer Zeit rannten dann auch die Russen aus dem Block. Unter bzw. außerhalb der Tribüne blieb es überraschender weiße ruhig. Die Situation beruhigte sich nach ein paar Minuten wieder.


Faszination Fankurve: Du hast zahlreiche Fotos von den Vorfällen gemacht und diese, nachdem die beteiligten Personen unkenntlich gemacht wurden, öffentlich gemacht. Hattest du keine Angst, selber attackiert zu werden?
Rapp: Nein, Angst nicht, aber man selbst ist schon auch voll Adrenalin und angespannt, aber durch die Jahre lange Stadionerfahrung kann man viele Situationen gut einschätzen und hält Augen und Ohren offen. Vor dem Stadion gab es eine Situation als wir uns bei friedlich feiernden Engländer aufhielten und auf einmal am Horizont Rauch aufstieg und circa 300 zum Teil vermummte Russen auftauchten und in unsere Richtung rannten. Als die Situation dann unübersichtlich wurde sind auch wir gerannt. Man muss sein Glück dann doch auch nicht ausreizen. Verwundert war man, dass bei diesem Angriff die Russen ohne Polizeibegleitung in unsere Richtung rennen konnten. Da aber bei den Engländern Polizei und ein Wasserwerfer standen wurde die Russen durch diese dann vertrieben, die dann selbst auch in alle Richtungen rannten.


Faszination Fankurve: Vor dem Spiel warst du auch in der Innenstadt von Marseille und am alten Hafen, wo es zu zahlreichen Vorfällen kam. Wie hast du die Situation vor Ort erlebt?
Rapp: Am Hafen selbst waren überwiegend die Engländer am feiern. Die Stimmung hier war zwischen russischen- und englischen Fans auch feierlich. Zum Teil machten sie zusammen Fotos und stießen mit dem ein oder anderen Getränk an. Uns zog es dann weiter bis uns auf einmal ein lauter Knall erschrocken hatte. Hier war dann die Situation angespannt, da man nicht einschätzen konnte was da los war. Man dachte schon an einen Anschlag. Dann kam die Polizisten und versuchte u.a. mit Tränengas den Platz zu räumen. Wir blieben weiterhin am Hafen und beobachteten einige Rennereien von Engländern und Polizisten sowie den Einsatz von Rettungswagen. Den ein oder anderen verletzten Engländer sah man am Boden bzw. von Sanitäter behandeln. Erst nach dem Spiel hatten wir im Fernsehen die Angriffe der Russen und das entgegensetzen der Engländer am Hafen gesehen.


Faszination Fankurve: Englische Fans berichteten nach den Vorfällen, dass sie überwiegend Opfer von Angriffen russischer und einheimischer Fans wurden. Teilst du diese Einschätzung?
Rapp: Ja, wir selbst haben die Engländer friedlich und feiernd erlebt und eben auch die beiden Angriffe mitbekommen, die von den russischen Fans ausgingen. Die Angriffe der einheimischen Fans tags zu vor auf die englischen Fans haben wir nicht mit erlebt, aber im Stadion mischten sich ein paar einheimische mit unter die Russen.

Faszination Fankurve: Welchen Eindruck machten die russischen Hooligans auf dich, die an den Vorfällen beteiligt waren?
Rapp: Die machten einen guten Eindruck (lacht). Sportlich und top motiviert. Im Stadion standen wir ja bei den Russen. Viele in sportlichen kurzen Hosen , mit Boxclub- und Gruppen-Pullis. Auch die Angriffe deuteten darauf hin, dass die aus dem Kampfsportbereich kommen bzw. Erfahrung haben. Zum Teil schnupften Sie auch flüssiges Adrenalin.


Faszination Fankurve: Aus England kam zudem Kritik an der Taktik der Polizei, da keiner der russischen Gewalttäter festgenommen wurde. Wie schätzt du das Vorgehen der Polizei im Stadion und am alten Hafen ein? Wäre es möglich gewesen russische Hooligans festzunehmen?
Rapp: Das ist eine gute Frage. Wäre die Polizei aus Bayern vor Ort gewesen hätte man sicherlich den ein oder anderen Russen festnehmen können. Ich vermute aber, dass die Polizei mit der Situation am Hafen überfordert war und sich eher auf die Engländer konzentrierte und die Russen dann zu Fuß in die Gassen von Marseille flüchteten. Auch beim Angriff vor dem Stadion waren es zu wenig Einsatzkräfte, die sich dann durch eine Polizeikette dem Schutz der normalen Zuschauern widmeten, was ich in diesem Augenblick auch für richtig halte. Aber ich hatte den Eindruck, dass es zu wenig Einsatzkräfte waren. Wenn ich das mit dem Amateurederby im April 2015 zwischen 1860 und Bayern vergleiche war das in Marseille zu wenig oder in München zu viel. Im Stadion selbst hätten die zehn Polizisten in Ihren blauen Trainingsanzügen nicht viel machen können, da sie zu wenige waren und dazu noch ungeschützt. Abschließend denke ich, wenn es zu Festnahmen gekommen wäre, wäre die Situation noch mehr eskaliert und die Russen hätten sich gegen die Polizei formiert. Klar ist auch, ein angetrunkener Engländer lässt sich leichter festnehmen.

Faszination Fankurve: Welche weiteren Pläne hast du für die Europameisterschaft 2016?
Rapp: Ich fahre nur noch zum Achtelfinale nach Lyon zum Spiel Sieger Gruppe A gegen den besten 3 der Gruppen C/D/E. (Faszination Fankurve, 20.06.2016)






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