14.06.2016 - Euro 2016

​Wie zwei Minuten ein friedliches Fanfest trübten


Deutsche Fans fielen am Sonntag in Lille durch einen Angriff auf ukrainische Fans und ein Gruppenfoto hinter eine Reichskriegsflagge auf. Faszination Fankurve sprach mit Heino Hassler, der vor Ort die deutsche Fanbotschaft betreute über diese Vorfälle, aber auch über die ansonsten tolle Stimmung.

Heino Hassler arbeitet seit 1989 für das Fanprojekt Nürnberg und war seit 1988 schon bei zahlreichen Welt- und Europameisterschaften als Fan und als Fanbetreuer vor Ort. Noch länger ist Hassler im Fanclub Seerose in Nürnberg aktiv, der jahrelang auch für seine Schlagkräftigkeit bekannt war.

Faszination Fankurve: In Lille kam es gestern zu gewalttätigen Vorfällen mit Beteiligung deutscher Fans. Was hast du davon mitbekommen?
Heino Hassler: Am Bahnhof in Lille hatte sich am Mittag bereits ein gewisses Klientel versammelt. Etwa 40 dieser Personen sind dann irgendwann die Straße vom Bahnhof in Richtung Place du Théâtre gelaufen, wo wir die deutsche Fanbotschaft aufgebaut hatten, aber auch die Fanbotschaft der Ukraine beheimatet war. Dort suchte der Haufen offenbar vergeblich nach gewaltbereiten Ukrainern. Danach zogen diese Leute ein paar Meter weiter auf den Place du Général de Gaulle, wo sich der Angriff auf ukrainische Fans ereignete. Als einen wirklichen Kampf würde ich das aber nicht bezeichnen, auch wenn zwei bis drei Ukrainer regelrecht umgehauen wurden.

Ein Video des Angriffs:

Faszination Fankurve: Am Place du Général de Gaulle sollen ukrainische Fans angegriffen worden sein, die kein Interesse an einer Auseinandersetzung zeigten.
Hassler: Drei bis vier ukrainische Fans, deren Statur dies auch zuließ, versuchten sich bei dem Angriff zu wehren. Doch die Übermacht der etwa 40 Angreifer war offensichtlich. Eigentlich war dort jedoch nur Fans versammelt, die kein Interesse an einer Auseinandersetzung hatten. Letztlich war es eine ein bis zwei Minuten Sequenz an einem langen Tag, bei dem sonst eine sehr freundschaftliche und ausgelassene Fußballstimmung herrschte.

Der Angriff aus einer anderen Perspektive:

Faszination Fankurve: Wie hat sich die ansonsten positive Stimmung zwischen deutschen Fans und ukrainischen Fans in Lille bemerkbar gemacht?
Hassler: Viele ukrainischen Fans kamen aus Deutschland und der Schweiz, weshalb es kaum Sprachbarrieren gab und Fans beider Teams verständigten sich auch in Englisch. Fahnen beider Länder schmückten den zentralen Platz, es wurden zusammen Fotos gemacht. Es herrschte eine freundschaftliche Stimmung in der Stadt, Freundschaftsschals waren zu sehen und Fangruppen, die miteinander feierten. Gegenseitige Pöbeleien waren für uns den Tag nicht zu vernehmen.. Auch die sonst immer mal wieder zu sehenden Alkoholleichen waren im sehr überschaubaren Lille nicht zu bemerken. Die große überwiegende Mehrheit beider Fanlager war einfach gut drauf, so auch auf der Treppe am Place du Général de Gaulle, an der der Angriff stattfand. Aus Deutschland waren etwa 9.000 bis 11.000 Fans vor Ort, was verdeutlicht wie klein die Minderheit ist, die sich daneben benommen hat.


Faszination Fankurve: Wie haben die Fans der Ukraine den Angriff wahrgenommen?
Hassler: Die ukrainischen Fans waren nach dem Vorfall überraschenderweise gar nicht sauer. Vielmehr gab es Verständnis dafür, dass es in einem so großen Land wie Deutschland immer ein paar Leute gibt, die für Ärger sorgen. Die positive Stimmung zwischen Fans beider Teams blieb dennoch bestehen.

Faszination Fankurve: Du hast selbst schon zahlreiche Europa- und Weltmeisterschaften als Fanbetreuer und als Fan vor Ort erlebt. Wie würdest du die gestrigen Vorfälle im Vergleich zu anderen Turnieren einschätzen?
Hassler: Mit den Vorfällen 1998 in Lens, als Daniel Nivel von deutschen Hooligans schwer verletzt wurde, oder auch mit den Vorfällen 2000 bei Deutschland gegen England in Charleroi in Belgien lassen sich die Vorfälle von Sonntag von Lille überhaupt nicht vergleichen. Zwar ist auch am Sonntag in Lille was passiert, aber niemand schwer verletzt worden. Auch davor und danach gab es keine Rennereien, wie das bei den anderen Vorfällen gab.

Faszination Fankurve: Gab es an der deutschen Fanbotschaft Berichte über weitere Vorfälle?
Hassler: Am Bahnhof in Lille kam es zu einem unschönen Gruppenfoto mit einer Reichskriegsflagge, das laut meinen Infos von diesen Personen selbst verbreitet wurde. Bis auf den beschriebenen Angriff und das Foto mit der Reichskriegsflagge lief nach unseren Informationen alles sehr friedlich ab. Uns sind keine weiteren Vorfälle bekannt. Erwähnenswert ist noch, dass viele deutsche Fans dachten, dass man mit der Eintrittskarte mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren dürfe, wie dies in Deutschland üblich ist. Da dies in Frankreich aber nicht der Fall ist, bildeten sich bei einer Kontrolle lange Schlangen am Ticketschalter. Fans, die noch zur Euro2016 ins Nachbarland reisen werden, sollten dies beachten.


Faszination Fankurve: Siehst du einen Zusammenhang zwischen den gewalttätigen Vorfällen von Marseille und Lille?
Hassler: Das ist jetzt natürlich sehr hypothetisch, aber vielleicht wollten die deutschen nach den Vorfällen von Marseille zeigen: „Wir sind auch noch da!“. Die Vorfälle von Lille hätte es ohne die Vorfälle von Marseille vielleicht gar nicht gegeben. Hinzu kam sicherlich, dass das Spiel in einer Kleinstadt, an einem Sonntag und dazu nicht weit weg von Deutschland stattgefunden hat.

Faszination Fankurve: Deutsche Fans traten den Weg zum Stadion in einem Fanwalk an. Blieb hierbei alles friedlich?
Hassler: Wir waren von der positiven Resonanz des Fanwalks extrem überrascht. Für die Behörden war dies ein Testlauf für die Genehmigung weiterer Fanmwalks, die in Frankreich wegen der Terrorgefahr nicht gerne genehmigt werden. Große Menschenansammlungen stellen in Frankreich aktuell einfach ein Sicherheitsrisiko dar. In Lille sind 3.500 deutsche Fans eine Strecke von fast fünf Kilometern bis zum Stadion gegangen. Auch hier herrschte eine super Stimmung und alles blieb friedlich, was Hoffnung auf weitere Fanwalks während der Europameisterschaft macht.

Faszination Fankurve: Wie war die Stimmung im Stadion?
Hassler: Dazu kann ich selbst nichts sagen, da ich auch während des Spiels die deutsche Fanbotschaft am Place du Théâtre betreut habe. Meine Kollegen, die im Stadion waren, sprachen im Nachhinein von einer guten Stimmung. Klar kann man dies nicht mit Stimmung in der Bundesliga vergleichen, aber für eine Großturnier soll es gut gewesen sein. Auch im Vergleich zu Heimspielen der deutschen Nationalmannschaft, bei denen man manchmal einzelne Personen husten hören kann, war es um Längen besser.

Faszination Fankurve: Wie war es während des Spiels in der Stadt?
Hassler: Es war sehr schwierig überhaupt eine Kneipe zu finden, die am Sonntagabend geöffnet hatte und das Spiel übertrug.


Faszination Fankurve: Das Team der Fanbotschaft in mittlerweile in Paris bzw. St. Denis angekommen, wo das Spiel gegen Polen ansteht. Wie geht es dort für euch weiter?
Hassler: Eigentlich war für die Fanbotschaft in Paris ein Platz an der Seine vorgesehen. Da der Fluss aber Hochwasser hatte, ist dort alles noch voller Schlamm. Die deutsche Fanbotschaft wird deshalb wohl auf dem Fanfest am Eifelturm die Zelte aufschlagen. Das letzte Wort ist hier jedoch noch nicht gesprochen. Vielleicht stehen wir auch vor dem Rathaus. Aktuelle Infos hierzu wird es auf unserer Homepage fanguide-em2016.de geben. Ein Blick lohnt sich also. Insgesamt sind wir mit elf Leuten aus Fanprojekten, Fanbeauftragten und von der Koordinationsstelle der Fanprojekte vor Ort. (Faszination Fankurve, 14.06.2016)






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